Der fanatische Alpinist erzählt mir, dass er schon bald am Ende seiner Reise steht. Er ist vor vier Monaten nach Peru gekommen, nur um Berge zu besteigen. Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen: »Willst du nicht die Leute und ihre Kultur kennenlernen? Oder dein Spanisch verbessern?« »Mein Spanisch ist zwar automatisch besser geworden, aber solange ich mich verständigen kann, ist mir das eigentlich egal. Die Kultur interessiert mich eigentlich auch nicht besonders. Ich will einfach auf ganz bestimmte Berge rauf, von denen ich gehört habe. Das sind Höhen und Schwierigkeitsgrade, die man bei uns in den Alpen nicht findet.«
Was kann ich dem noch entgegensetzen? »Gib dich der Umwelt zuliebe mit den Alpen zufrieden«? Ich muss an meinen Vater denken, für den sich ein Lebenstraum erfüllt hat, als er das Mount Everest Base Camp erreichte. Und selbst wenn Steffen wegen der Kultur und der Sprache nach Peru gereist wäre: Wären das bessere Gründe? Wie können wir so etwas überhaupt werten? Wer entscheidet, ob die Anden Teil der peruanischen Kultur sind oder nicht? Warum bin ich denn selbst gerade hier und plane Touren durch diese großen Berglandschaften? Mist. Mein erster Diskussionsversuch geht voll daneben und ich merke, dass ich mich auf solche Gespräche in Zukunft besser vorbereiten muss. Klar könnte ich Steffen noch vorhalten, dass er gerade, wenn er Gletscher so liebt, auf keinen Fall ins Flugzeug steigen dürfte. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass er dieses Argument gelten lassen würde, zu viele Ausflüchte sind momentan gang und gäbe: Da muss doch zuerst in der Energiewirtschaft etwas passieren, meine Entscheidungen verändern am Klimawandel als Ganzes sowieso nichts, diese ganze Leier. Ein Teil Wahrheit steckt darin schließlich auch. Ich kann Steffens Motive für einen so langen Flug zwar nicht nachvollziehen, finde aber keine gleichwertige Alternative, die ich ihm anbieten könnte, und kein sinnvolles Argument, das ich seiner Entscheidung entgegensetzen kann. Immerhin ist Steffen nicht für zwei oder drei Wochen hier, so wie viele andere, mit denen ich im Hostel gesprochen habe, sondern gleich für mehrere Monate. Ich verstehe immer noch nicht, wie er für die Menschen und ihre Kultur so wenig Interesse aufbringen kann, obwohl er sich so lange in ihrem Land aufhält.
»Ich habe natürlich auch viel über Peru und die Leute hier gelernt, das passiert ja automatisch, wenn ich da bin«, meint er daraufhin. Und ich frage mich: Passiert das wirklich von selbst? Kann ich mit einem Reiseführer in der Hand in den touristischsten Orten absteigen und trotzdem die Lebensrealität der Menschen kennenlernen, wenn ich nur lange genug bleibe? Ich glaube nicht daran. Im Gegenteil, es könnte sogar sein, dass der Tourist ein völlig falsches Bild von einem Land mit nach Hause nimmt. Trotzdem stimme ich Steffen in diesem Moment zu, dass er, quasi unabsichtlich, sehr viel über Peru gelernt hat. Wenn sie lange genug an einem Fleck bleiben – nicht in einem Land, sondern wirklich am selben Ort –, dann beginnen die meisten automatisch, über den Tellerrand des touristischen Angebots hinauszuschauen und nehmen wahr, wie das echte Leben läuft. Aber was ist lange genug? Zwei Wochen sind zweifellos zu wenig. Nach drei Monaten haben wir uns meistens voll eingelebt und alles fühlt sich schon ganz normal an. Gewohnheiten brauchen laut Psychologen im Durchschnitt sechsundsechzig Tage, um sich zu bilden. 5Wer also wirklich an einem fremden Ort »ankommen« möchte, der sollte zumindest zehn Wochen bleiben, ohne mit Sack und Pack schon das nächste Ziel anzusteuern. Steffen hat sein Hauptquartier nun seit zwei Monaten bei Mariella, damit hat er dieses Kriterium schon fast erfüllt. Doch das interessiert ihn herzlich wenig, er wird für die letzte Woche seiner Reise noch in den Regenwald fahren, um auch von dieser ganz anderen Natur noch etwas zu sehen. Im kommenden Jahr kann er nicht noch mal so viele Monate verreisen, dann muss er wieder mehr studieren, erklärt er mir. Trotzdem wird er dann für fünf Tage nach Norwegen fliegen, um dort waghalsige Skitouren in den Bergen zu unternehmen. Der Flug ist schon gebucht.
5Dean, Jeremy: Making habits, breaking habits . Oneworld Publications, London 2013. S. 150
Nun habe ich die magische Grenze, die ich selbst festgelegt habe, erreicht: Seit zehn Wochen lebe ich in Lima. Ich habe ein paar Ausflüge in andere Ecken dieses immensen Landes gemacht, doch Lima ist nun seit mehr als zwei Monaten mein Zuhause. Für Tom ist es bereits der siebte Monat, den er hier verbringt, und dementsprechend ist für ihn das meiste schon viel länger Routine als für mich. Bevor ich angekommen bin, hat er in einer großen WG voller Austauschstudenten gelebt. Er war etwas enttäuscht, keine WG peruanischer Studenten gefunden zu haben, aber die wohnen meistens noch zu Hause oder in Wohnheimen und ziehen erst in eine Wohngemeinschaft, wenn sie zu arbeiten beginnen. Ich habe Toms alte WG und ein paar der dort Wohnenden irgendwann kennengelernt und fühlte mich sehr an meine eigenen Austauschsemester erinnert. Egal ob WG oder Studentenwohnheim, die Welt der Exchange Students ist ein eigener kleiner Mikrokosmos. Gleich vorweg: Ich werde kein schlechtes Wort über jeglichen Studierendenaustausch verlieren. Projekte wie Erasmus sind Grundsteine einer modernen, offenen Gesellschaft. Wenn ich irgendjemandem Flüge erlauben möchte, dann Austauschstudenten – zumindest jenen, die auf dem Landweg nicht an ihr Ziel gelangen können. Dank Erasmus & Co. fühlen Menschen meiner Generation sich mehr als einer Nation zugehörig, gründen internationale Familien und sprechen mehrere Sprachen fließend. Erasmus hat es mir ermöglicht, ein Semester lang in Frankreich zu leben und mich selbst und die Welt neu kennenzulernen. Ironischerweise habe ich an einem europäischen Austauschprogramm teilgenommen, flog dafür aber elf Stunden Richtung Süden: Die Kolonialgeschichte Frankreichs macht es möglich, gibt es doch mehrere französische – und damit europäische – Inseln in den Weltmeeren, weit weg von Europa.
Die Ankunft auf einer dieser Inseln war für mich zuerst ein Schock – alles war anders, alles war fremd, zum ersten Mal in meinem Leben war ich völlig allein. Ich war überfordert und heulte mich am ersten Abend in den Schlaf. Doch schon am zweiten Tag wurde ich aufgefangen, ich lernte andere Exchange Students kennen, orientierte mich auf dem Campus, alles wurde schnell einfacher. Und wie so oft konnte ich mir nach wenigen Monaten kaum vorstellen, wieder wegzufahren. Ich hatte Freunde aus aller Welt gefunden, sprach inzwischen fließend Französisch, hatte Einblick in völlig andere Lebensrealitäten gewonnen und war beim Tiefseetauchen über die bisherigen Grenzen meines Mutes hinausgewachsen. Exakt zur Zeit meines Erasmus-Semesters veröffentlichte die ZEIT einen hoch umstrittenen Kommentar mit dem Titel »Erasmus, Orgasmus!«, in dem die allseits bekannten Exzesse von Austauschstudierenden hochgelobt wurden, denn sie stiften (europäische) Identität und seien damit viel wichtiger als gute Studienergebnisse. 6Sogar die Ärztin in Wien, zu der ich ging, um die notwendigen Impfungen zu erhalten, empfahl mir anstelle von aufwendigen Impfungen gegen tropische Viren vor allem einen Schutz gegen sexuell übertragbare Krankheiten. Zu diesem Zeitpunkt musste ich darüber sehr lachen, schließlich hatte ich keineswegs vor, während meines Austauschsemesters zur Nymphomanin zu mutieren. Und trotzdem, obwohl ich es absolut nicht geplant hatte, habe ich dann doch das bekannte Klischee gelebt: unglaublich viel gefeiert und mich hemmungslos sexuell ausprobiert. Warum tun das so viele genau im Ausland? Weil es egal ist, wer es mitbekommt. Weil du dich von Tag eins an neu erfinden kannst, weil niemand bereits eine Meinung von dir hat und weil du dir auch genüsslich ein furchtbares Image zulegen kannst, denn diese Leute wirst du in ein paar Monaten nie wiedersehen, wenn du es nicht willst. Und dann stellen viele erstaunt fest, dass sie Freunde finden, obwohl sie sich so ungeniert verhalten. Genauso ging es auch mir, und genau das hat mich nachhaltig verändert. Doch auch die gegenteilige Erfahrung war prägend: Ich war genauso oft allein, einsam und gelangweilt, was vielleicht sogar das Wichtigste war. Jede einzelne Erfahrung war unglaublich wichtig, um mich so selbstständig, mutig und frei zu machen, wie ich mich heute fühle. Die Veränderung war deutlich spürbar, als ich am Ende des Semesters einen besonderen Besucher auf der Insel empfing: meinen Vater. Zwei Wochen lang führte ich über seine neueste Abenteuerreise Regie, übersetzte Gespräche, plante Ausflüge und erklärte ihm Orte, die ihm völlig fremd und mir total vertraut waren. Er war sichtlich stolz auf mich, doch manches Mal schien ihm die neue Claudia nicht ganz geheuer zu sein. Ich genoss es, meine neu gewonnene Freiheit vor ihm zur Schau zu tragen. Besonders denkwürdig war der Moment, als ich meinem Vater eines Abends einen Joint anbot und dabei entspannt in seine vor Entgeisterung aufgerissenen Augen blickte. Ich konnte darin förmlich seine Gedanken lesen: »Ist das noch mein kleines Mädchen?« Nachdem er den ersten Schock verdaut hatte, nahm er das Angebot an. Meine Freunde und ich zerkugelten uns wenig später vor Lachen – nicht nur, weil wir zu viel geraucht hatten, sondern auch, weil mein Vater bereits am Tisch eingeschlafen war.
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