Noch vor einem halben Jahr habe ich mir auf die gleiche Art in Kanada einen Alltag aufgebaut: Sport, Freunde, Partys. Ich war am Ende traurig, das alles zurücklassen zu müssen, ich vermisse manchmal die Orte und Menschen, die ich regelmäßig besucht habe. Zu manchen halte ich Kontakt über Facebook, WhatsApp oder Skype, viele verliere ich schnell wieder aus den Augen. Es sind Vorgänge, die in unserer globalisierten Welt schon normal sind. Wer hält denn heute noch jahrelang Brieffreundschaften à la Jane Austen mit einer Person, der er ein, zwei Mal begegnet ist? Bei manchen Bekanntschaften erwische ich mich aber auch bei dem Gedanken: »Zum Glück haben wir den maximal ein paar Monate am Hals«, und ich erschrecke über meine eigene Abgebrühtheit. Sind Menschen für uns schon so austauschbar geworden wie H&M-Klamotten? Oder will ich mich selbst nur vor dem nächsten Abschiedsschmerz schützen, wenn ich mich auf neue Menschen schon gar nicht mehr richtig einlasse? In Kanada habe ich eine Bekannte aus Wien getroffen, die für ihr Doktorat einige Monate dorthin gezogen ist. Ich fragte sie, wie sie sich eingelebt hat, und sie meinte nur: »Ich hab mir wieder einen Judo-Verein gesucht, die Kollegen in der Arbeit kennengelernt, und dann war’s eh ›Geht schon weiter, normales Leben halt!‹«. Ich war fasziniert. So einfach und unkompliziert sah sie das?! War sie blind oder ich so kompliziert? Ich habe mir auch wieder Möglichkeiten gesucht, um Sport zu treiben und Studienkollegen kennengelernt, aber deshalb führe ich doch nicht gleich wieder das gleiche Leben wie zu Hause – oder? Menschen zu finden, die tatsächlich mit mir auf derselben Wellenlänge sind, denen ich Vertrauen schenke, braucht Zeit. Ich finde den halbjährlichen Wechsel meines Freundeskreises bereits anstrengend. Ich muss an meinen Vater denken, der von jeder seiner Reisen neue Kontakte mitbringt und der an seinem Geburtstag immer ganz stolz aufzählt, aus wie vielen Ländern er bereits Grüße auf Facebook erhalten hat. Dabei weiß ich nur von einer Person, mit der er seither tatsächlich eine feste Freundschaft aufgebaut hat. Und wenn man ihn nach der Zeit des Reisens fragt, dann gibt auch er zu: Viele Abende verbringst du unterwegs trotzdem mit dir selbst. Wie muss es denn jenen gehen, die monate- oder jahrelang permanent ihren Aufenthaltsort wechseln? Reisende sind ständig unter Menschen und doch oft furchtbar allein.
Die ersten Reisen, an die ich mich erinnern kann, habe ich mit meinen Eltern und der Familie meines Onkels nach Italien unternommen. Strandurlaub in Jesolo, das Bilderbuchklischee der Neunzigerjahre. Das Viersternehotel hieß »Cambridge«, wie passend für Italien, das Frühstücksbuffet war riesig, zumindest für mich als Siebenjährige, die zuvor noch nie in einem Hotel gewesen ist. Ich ernährte mich trotzdem vorwiegend von der bereits in Würfel geschnittenen Wassermelone, die ich am ersten Tag am Buffet entdeckte. Jeden Tag wachte ich vor allen anderen auf und lief hinunter zum Pool, um eifrig Liegen für alle zu reservieren. Bis meine Eltern zum Frühstück erschienen, hatte ich bereits drei Schüsseln voller Wassermelone verdrückt. Dann blies ich mein Gummikrokodil auf und planschte damit im Pool herum. Nachmittags gingen wir an den Strand, wo meine älteren Cousinen mich bis zur Hüfte im Sand eingruben, während die Erwachsenen im Schatten lasen, schliefen und Zigaretten rauchten – schließlich waren sie im Urlaub. Ich erinnere mich, dass der Sand so heiß war, dass ich zur Strand-Eisdiele rennen musste, um mir nicht die Füße zu verbrennen. Abends vollzog sich immer dasselbe Ritual, das ich liebte: Alle zogen sich schick an, dann gingen wir ins Hotelrestaurant, wo uns ein dreigängiges Menü erwartete. Jeden Tag derselbe Tisch, derselbe Kellner, der mich »Signorina« nannte, wechselnde Pasta-Gerichte mit viel Parmesan und jeden Tag das gleiche Dessert-Buffet, auf das ich mich mit gleichbleibender Begeisterung stürzte. Danach bummelten wir durch die Stadt, mit großen Augen vorbei an den Touristen-Strandshops, vorbei an bunten Luftmatratzen, Flip-Flops und Bolero-Tüchern. In der Ferne sah ich den Luna-Park leuchten, den ich nie erreichen sollte. Ich konnte nur fasziniert die Glücksspielmaschinen und die unglücklichen Menschen, die den Hütchenspielern auf den Leim gingen, beobachten. Mein Vater klärte mich über ihre Tricks auf, während meine Mutter Souvenirs beäugte. Die Abende endeten stets im selben Lokal, wo die Erwachsenen Bier und Wein tranken, während meine Cousinen und ich in der Hollywoodschaukel sitzend selig riesige Schoko-Frappés schlürften. Es war wunderbar. Im folgenden Jahr wiederholte sich der Urlaub fast identisch, bis auf ein paar denkwürdige Ereignisse: Ich lernte im Hotelpool schwimmen, worauf ich mächtig stolz war, ich erlebte unwissentlich mein erstes Déjà-vu, was mich über zwei Jahre lang glauben ließ, dass ich übernatürliche Fähigkeiten hätte, und ich wurde bei einem Tretboot-Ausflug sehr schmerzhaft von einer Qualle erwischt.
Irgendwann, von meinem inzwischen in die Pubertät geratenen Selbst kaum registriert, endeten diese Familienurlaube einfach unkommentiert. Ab diesem Zeitpunkt entwickelten sich die Reisegewohnheiten meiner Eltern in zwei völlig konträre Richtungen. Während meine Mutter endgültig entschied, dass sie nicht gerne wegfuhr, hing mein Vater immer öfter großen Reiseträumen nach. Bereits in seinen Zwanzigern hatten er und seine Kumpels mit ihren Motorrädern die ganze Südhälfte Europas befahren, Griechenland, Türkei, Spanien, alles mit Zelt und wahrscheinlich viel zu viel Alkohol. Später, nach zahlreichen Jahren des Buckelns und Schuftens für die Familie, in denen er sich aus seiner Sicht sonst nichts gegönnt hatte, plante er seine ersten so lange ersehnten Rucksackreisen auf fremde Kontinente: Sein erstes Abenteuer führte ihn für drei Wochen nach Brasilien, zu indigenen Völkern an den Amazonas, die ganz anders waren als alles, was er davor gekannt hat, und die ihn unglaublich faszinierten. Er brachte viele Geschenke mit nach Hause, viel Schmuck, manches sogar mit Anhängern aus Affenzähnen, Taschen und Tücher. Das alles trug ich, inzwischen sechzehn Jahre alt, wie Trophäen in der Schule zur Schau. Alle Nachbarn und Verwandten waren beeindruckt von der Abenteuerlust meines Papas, ich am allermeisten. In unserer öden Kleinstadtwelt war dies eine interessante Neuigkeit für viele, darum zeigte er wochenlang jeden Abend seine Fotos dem ständig wechselnden Besuch. Ich wohnte seinen sich immer ähnlicher werdenden Vorträgen stets bei und wusste schon bald, welche Fotos und Geschichten aufeinanderfolgten. Ab diesem Zeitpunkt war ich angefixt von der Idee der großen, weiten Welt. Als ich siebzehn war und mein Vater mit dreiundvierzig eindeutig in der Midlife-Crisis angekommen schien, machte er entgegen allen Erwartungen in der Familie ernst, meldete bei seinem Arbeitgeber ein Sabbatical an und packte seinen Rucksack für ganze sechs Monate: von Alaska nach Feuerland lautete sein Plan. Was ich heute für ein fürchterliches Klischee halte, war damals revolutionär, zumindest in meiner kleinen Welt. Das Smartphone war erst kürzlich erfunden worden, Papa reiste noch mit Digitalkamera und benutzte unterwegs Internetcafés. Fotos per E-Mail zu versenden war aufwendig und dementsprechend selten. Auf Google Maps und mit Routenplaner verfolgte ich seine Reise, nachdem er wieder eine E-Mail aus einer neuen Stadt geschrieben hatte. Sein Vorbild war das Buch eines typischen Business-Aussteigers gewesen, auch das las ich. Als er zurückkam, ging der Rummel um seine vielen Geschichten und Fotos von vorne los. Sogar mir, seinem treuen Fan, wurden die sorgfältig inszenierten Erzählabende irgendwann langweilig. In den folgenden Jahren, ich war bereits nach Wien gezogen, um zu studieren, zog es meinen Vater immer wieder für längere Zeit in die Ferne – Südostasien, Marokko, Nicaragua, Costa Rica, Kuba … Immer bereitete er sich akribisch mit einem Lonely Planet auf die Reisen vor. Immer zog er dann mit dem Rucksack los. Und immer kehrte er zurück und verkündete lautstark: »Das war das letzte Mal! Ich bin zu alt für das Backpacking!« Doch im nächsten Jahr zog er wieder los. Meine Mutter ließ ihn gelassen ziehen und wiederkehren, ohne dies allzu viel zu kommentieren. Wann immer Freunde oder Bekannte sie fragten, warum sie denn nicht einmal mitfahre, winkte sie nur schulterzuckend ab. Die extreme Reise-Unlust meiner Mutter wurde in unserer Familie über die Jahre zu einem Garanten für Witzeleien. Flugzeugen misstraut sie, Bus- oder Autofahrten sind ihr zu anstrengend. Zugfahren ist zwar in Ordnung, aber dann ist da noch das In-fremden-Betten-Schlafen, das Kofferpacken, das Sachen-Daheim-Lassen, und und und … Kurz: Sie ist gern daheim und hat kein Bedürfnis, die Welt zu erkunden. Trotzdem hat sie auch mich nie zurückgehalten, wenn mich das Fernweh packte, sondern immer nur lächelnd festgestellt: »Das hat sie eindeutig von ihrem Vater.«
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