Ich war wahnsinnig stolz auf meinen Plan, mit dem ich meine Flugdistanz auf das minimal Notwendige, nur über den Atlantischen Ozean, reduziert habe. Doch ich muss auch zugeben, dass ich es während meines vierten Umstiegs am Bahnhof in Lyon langsam bereute, genauso wie mitten in der Nacht am Busbahnhof von Bordeaux, wo es schön dunkel war, wunderbar nach Urin duftete und ich aus Mangel an Nahrungsangebot über meine als Gastgeschenk gedachten Mozartkugeln herfiel. Umso stolzer berichtete ich Muriel, meiner früheren Mitbewohnerin aus Wien, bei unserem Treffen in Marseille von dieser Odyssee. Immerhin hatte ich ökologisches Denken im Grunde von ihr gelernt. Dementsprechend schockiert war ich, als ich erfuhr, dass sie selbst aus Brüssel mit dem Flugzeug hergejettet war, um mich zu treffen. Da hätte ich ja gleich selbst nach Madrid fliegen können. Wie zum Vorwurf berichtete ein Radiomoderator ihres Lieblingssenders eines Morgens, während wir auf dem Balkon unserer Airbnb-Unterkunft im Mistral-verwehten Marseille frühstückten: »Umweltforscher sagen, dass nur drei große Maßnahmen tatsächlich nachhaltig das Klima schonen: nicht Auto fahren, nicht fliegen und keine Kinder bekommen.«
»Also, Muriel, keine Kinder?«, lachte ich.
Muriel war sichtlich getroffen von meinem augenzwinkernden Vorwurf, das schlechte Gewissen war ihr deutlich anzusehen.
Dabei gehöre ich ja selbst zur schlimmsten Sorte, wenn es um das ökologische Gewissen geht. Die einen machen quasi alles richtig – vegan essen, Fahrrad fahren, unverpackt einkaufen oder NICHTS kaufen – und verurteilen jene, die das nicht schaffen, obwohl es doch » so leicht und so viel schöner« sei, während diese anderen permanent ein schlechtes Gewissen wegen ihres Lebensstils haben. Ich hingegen verurteile alle Menschen rund um mich herum für ihr unökologisches Verhalten und schaffe es selbst nur selten, konsequent zu sein. Ein Leben ohne Fleisch? Gerne weniger, aber bestimmt nicht ganz ohne. Ein Leben ohne Käse?! Da könnt ihr mich gleich erschießen. Und welche schöne Ausrede hatte ich also parat, um meinen anstehenden Flug um die halbe Welt zu rechtfertigen? Natürlich der einzige Grund, der immer erlaubt ist: die Liebe.
An jenem Morgen in Marseille beim Frühstück dämmerte mir langsam, dass das Fliegen selbst für die absoluten Ober-Ökos anscheinend eine eigene Kategorie darstellt. Ich begann zu recherchieren: Eine Umfrage in Deutschland im Jahr 2014 ergab, dass Menschen, die »Grün« wählen, am meisten fliegen. Und die Grün-Wählenden sind anscheinend auch die einzige Gruppe, in der tatsächlich alle schon einmal geflogen sind. 2Das habe ich davor nicht für möglich gehalten, doch nach längerem Nachdenken fand ich es wenig verwunderlich: Wer interessiert sich denn besonders für andere Kulturen? Wer spricht mehrere Sprachen? Wer ist häufiger akademisch ausgebildet und damit zu beruflichen und privaten Flugreisen privilegiert? Dabei wissen wir inzwischen auch, dass der Verzicht auf Flüge eine der wirkungsvollsten Entscheidungen ist, die eine Einzelperson treffen kann, um Emissionen zu reduzieren. 3Dazu kommt, dass bloß drei Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2017 und nur circa achtzehn Prozent aller Menschen überhaupt in ihrem Leben schon einmal geflogen sind. 4Ich werde in den kommenden Monaten so manch typisches Exemplar dieser Reisenden persönlich kennenlernen. Sie alle werden von meiner eigenen inkonsequenten Person, quasi auf Augenhöhe, für ihr Handeln infrage gestellt werden. Was ich wissen will, ist: Was treibt uns an, ständig unterwegs zu sein? Haben wir überhaupt ein Recht auf unendliche Reisefreiheit? Und lohnen diese Reisen sich überhaupt? Machen sie uns oder unseren Planeten in irgendeiner Form besser? Ich habe vor, bei anderen Travellern genauso wie bei mir selbst knallhart und ehrlich hinzusehen, ohne Facebook- und Instagram-Filter, und herauszufinden, ob und wem diese vielen Flugreisen tatsächlich etwas nützen.
Als Teil dieser gewissenlosen, elitären drei Prozent der Menschheit sitze ich jetzt also gerade in einem Flugzeug, das mich in zwölf Stunden von Spanien nach Peru bringen wird, und freue mich nicht einmal so richtig darüber. Doch, ich freue mich schon ein bisschen, denn in Lima erwarten mich zwei Dinge, die ich bereits schmerzlich vermisse: die eigenen vier Wände, inklusive Schrank statt Rucksack, und Tom.
1Kling, Marc-Uwe: Die Känguru-Offenbarung , Ullstein, Berlin 2014
2 www.boell.de/sites/default/files/oben_flugbroschuere_160603.pdf?dimension1=ds_fliegen(16.03.2018)
3 iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/aa7541#erlaa7541f1(06.01.2019)
4 www.dw.com/de/der-klimawandel-und-das-fliegen/a-42094220(16.03.2018)
Als ich in Lima ankomme, bin ich müde. Meine innere Uhr sagt mir, dass es bereits mitten in der Nacht ist, doch auf dem Weg hierher haben sich die Uhren sechs Stunden zurückgedreht. Tom erwartet mich inmitten einer Menge von Taxifahrern mit Namensschildern und strahlt. Ich strahle zurück, wir küssen uns. Obwohl ich ihn in den vergangenen sechs Monaten regelmäßig auf Skype oder FaceTime gesehen habe, hätte ich ihn mit seinem dichten Bart und den langen Haaren fast nicht erkannt. Es ist ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass die technischen Hilfsmittel den echten Anblick nicht vollständig ersetzen können. Doch eines ist bestimmt durch den ständigen Online-Kontakt anders geworden: Alles ist sofort wieder vertraut, wir sprechen so miteinander wie noch vorgestern am Telefon, er fragt »Wie war der Flug?« und ich erzähle entnervt von meinem Starbucks-Desaster. Kitschige Wiedersehensszenen à la Fünfzigerjahrestreifen, ungläubige Blicke, dass die andere Person tatsächlich noch am Leben ist und die geschriebenen Briefe doch nur in der Post verloren gegangen sind, so etwas gibt es heute nicht mehr.
Wir steigen in ein Taxi, Tom spricht inzwischen fließend Spanisch und verhandelt souverän mit dem Fahrer den Preis. Als wir durch das lärmende, blinkende und stinkende Großstadtchaos Limas fahren, steigen in mir Erinnerungen an Dakar hoch. Die halb auseinanderfallenden Autos, die die Straßen Limas verstopfen, unterscheiden sich von jenen in Dakar nur dadurch, dass sie statt aus Europa aus den USA hierhergebracht werden, wenn sie den westlichen Sicherheitsstandards nicht mehr entsprechen. Alle hupen, versuchen inmitten der Autokolonnen Softdrinks oder Kekse zu verkaufen, verschließen ihre Autotüren von innen vor mutmaßlichen Dieben. Die Werbetafeln und Aushängeschilder rundherum sind die gleichen wie bei uns: Visa, Mercedes, Coca-Cola, Multiplex-Kino, McDonald’s. Ich bin eher unbeeindruckt und beschäftige mich mehr mit Tom als mit dem, was rundherum passiert. Ist es nicht absurd, dass ein so ferner, fremder neuer Ort mich mit fünfundzwanzig Jahren nicht einmal mehr überrascht oder schockiert? Auch diese alten Szenen, mit großen Augen an der Fensterscheibe klebend, etwas beobachtend, was man noch nie zuvor nur annähernd gesehen hat, auch das gibt es für die Privilegierten unserer Generation kaum mehr. Ich erinnere mich an Ta-Nehisi Coates, der in seinem Buch »Between the world and me« erzählt, wie faszinierend und augenöffnend sein erster Besuch in Paris für ihn war, einen jungen, mittellosen Schwarzen aus den USA. Ich würde in diesem Moment gerne noch einmal so staunen können, wie er es beschreibt. Mittendrin in dieser mir viel zu vertraut wirkenden elf Millionen großen, vom Betonboden bis zur Smogwolke grauen Megacity navigiert Tom den Taxifahrer zu unserer Wohnung, die er vor Kurzem für den Rest seines Studienjahres für uns beide gemietet hat. Er hat sich parallel zu seinen Semesterprüfungen voll ins Zeug gelegt, um noch eine Wohnung zu finden, bevor ich ankomme. Auch wenn ich ihm immer versichert habe, dass es mir nichts ausmachen würde, noch ein paar Wochen in seiner Studenten-WG zu wohnen, bin ich heilfroh, dass wir jetzt von Anfang an unser eigenes, kleines Reich haben.
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