anna wittig
Ich bleibe Ich
Eine Autobiografie
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Inhaltsverzeichnis
Titel anna wittig Ich bleibe Ich Eine Autobiografie Dieses ebook wurde erstellt bei
1 Prolog
2 Über mich
3 Großmütter
4 Morgenmeditation 2016
5 Harte Lehrjahre bei Mama
6 Jutta und ihr Jugendwahn 2016
7 Beste Freunde
8 Baummeditation 2016
9 Begegnung mit einem Hippie
10 Hippie-Freunde
11 Der Donnerstagskreis 2016
12 Berlin
14 Günter Grass
15 Mika
16 Doris und die Engelfrage 2016
17 Studenten-WG
18 Vietnamkongress und Demonstration
19 Rudi Dutschke
20 Leo
21 Gründonnerstag 1968 - Attentat auf Dutschke
22 Ostern 1968 – Straßenkrieg
23 Ostersonntag – Landfriedensbruch?
24 Veränderung
25 Jimi Hendrix
26 Abschied von Berlin
27 Das Leben ist wundervoll. Es gibt Augenblicke, da möchte man sterben. Aber dann geschieht etwas Neues, und man glaubt, man sei im Himmel. (Edith Piaf)
28 England
29 Free Stones Concert im Hyde Park 5. Juli 1969
30 Amesbury und Avebury
31 Salisbury
32 Stonehenge
33 Einfach nur Leben
34 Afrika
35 Gast bei den Sérèrn
36 Gast bei den Bassari
37 Biyil, Syaboutyara und merkwürdige Bräuche
38 Opferung
39 Mali, Iréne und die Bambara
40 Ein Besuch im Dorf
41 Sight-Seeing-Touren
42 Die Bambara - das Volk
43 Fest im Bambara-Dorf
44 Beinbruch
45 Gast bei den Dogon
46 Besuch beim Hogon
47 Die „Vogelnest“-Dörfer und ein Flirt mit einem Totemtier
48 Abschied
49 Guinea
50 Bei den Kissi – Gewitter im Regenwald
51 Abstecher – Waldguinea
52 Die letzte Etappe
53 Barra – Zu Gast bei Fionn und Mary
54 Letzter Reisetag – Die Steinkreise von Wassu und Kerr Batch
55 Überwiegend glückliche Zeiten
56 Feindschaft
57 Schottland
58 Urquhart Castle – Loch Ness - Corrimony Cairn – Feld von Culloden
59 Highland-Wanderung mit John und Jochen
60 Letzter Urlaubstag – Highlandwanderung mit John
61 Johns Opfer bei Vollmond 2016
62 Überraschung
63 Nichts ist gefährlicher, als vollkommen sicher zu sein. (Lisz Hirn)
64 Schwarz
65 Rückkehr ins Leben
66 Rettung
67 Auf dem Weg zur Heilung
68 Heilungsritual - Genesung
69 Zeitspanne 1949 bis 1975
70 Danke
Impressum neobooks
„Schreib ein Buch, Anna.“ Ich schaue Nataraj an. Meinen indischen Freund aus alten Hippietagen. Meinen persönlichen Supervisor. Ich schaue ihn an, als hätte er den Verstand verloren, wäre von einem auf den anderen Augenblick zum dementen Schatten seiner selbst mutiert. „Ein Buch?“, frage ich irritiert, „worüber denn?“
Nataraj lacht sein meckerndes Altmännerlachen. Er ist alt geworden, achtundachtzig schätze ich, und lebt seit langem sehr zurückgezogen. Ich betrachte es als Privileg, ihm weiterhin auf die Nerven gehen zu dürfen. Wobei ich oft bezweifle, dass er so etwas Profanes wie Nerven in seinem Körper beherbergt. Er ist mittlerweile so dünn wie ein Suppenspargel und so faltig wie ein Plisseerock. Ich setze mich ihm gegenüber auf ein Kissen. Im Schneidersitz. Er bevorzugt nach wie vor den originalen Lotossitz. Anscheinend hat er auch keine Gelenke. Zumindest keine, die bei einer solchen Verrenkung schmerzen. Ich spiele mit dem Peacezeichen, das an einer Kette um meinen Hals hängt. Nataraj bemerkt es und nickt. „Sieht so aus, als könnte die Welt das wieder brauchen.“
„Sieht so aus“, antworte ich, „als hätten wir es nie in der Schublade versenken dürfen.“
Ich habe meinen Freund aus einem bestimmten Grund aufgesucht: An mich ist eine Frage herangetragen worden, auf die ich keine Antwort weiß. Wie wird man eine „spirituelle Lebensberaterin“? Es fiel mir auf, dass ich mir darüber nie Gedanken gemacht habe. Für mich ist diese Arbeit eine Bestimmung. Die logische Fortsetzung meiner unorthodoxen Lebensgeschichte.
„Die Frage dieser Frau ist berechtigt“, belehrt mich Nataraj. „Wie wird man zu dem, was man ist? Geh deinen Lebensweg Schritt für Schritt zurück. Nimm ihn noch einmal genau unter die Lupe. Du wirst erkennen, dass er vorgezeichnet war. Die Spiritualität ist ein Teil von dir. Dazu trug vielerlei bei. Die Erziehung durch deine Großmütter, Menschen, denen du begegnetest, Gutes und Schlechtes, das dir widerfuhr. Hinzu kam dein Interesse an alten Religionen und Gesellschaftsstrukturen. Du hast Philosophie studiert und nach Antworten gesucht. Betrachte alles aus heutiger Sicht. Das wird dich zur Lösung führen.“
Ich grüble über seinen Worten. „Wenn ich ein solches Buch schreiben würde“, frage ich, „womit sollte ich, deiner Meinung nach, beginnen?“ Und würde im selben Moment diesen Satz gerne wieder dorthin zurückstopfen, wo er herkam.
Schon zieht Nataraj die dichten, weißen Brauen hoch. Die Runzeln um seine Augen vertiefen sich zu kleinen Gräben. „Eine solche Frage aus deinem Mund, Kind? Womit fängt man wohl an? Mit dem Anfang natürlich, mit deiner Geburt. Beschreite nochmals alle Wege, die du gegangen bist. Auch, wenn es dich manches Mal schmerzen wird.“
Er hebt segnend die Hände. Meine Audienz ist für dieses Mal beendet. »Ich denke darüber nach«, verspreche ich, verneige mich respektvoll vor ihm und ziehe leise die Tür hinter mir ins Schloss.
Ich soll fremden Menschen tiefe Einblicke in mein Leben gewähren? Oh, Nataraj. Das kann nicht dein Ernst sein. Ich führe von Anfang an ein Krisenleben, das wie ein Tornado über mich hinwegfegt. Mich an der einen Stelle aufsaugt und an einer anderen ausspuckt. Es kribbelt mich, wenn ich nur daran denke.
Ich brauche über ein Jahr und mehrere Sitzungen mit Nataraj, um mich mit diesem Gedanken anzufreunden.
Ich arbeite als psychologische Beraterin und »spirituelle« Lehrerin. „Spirituell“ heißt für mich eine persönliche, durch Erfahrung geprägte Weltsicht, eine mir eigene Philosophie, keinesfalls ein Abtauchen in religiösen oder pseudoreligiösen Nebel.
Im Gegenteil, ich bin sehr weltlich orientiert, hinterfrage kritisch, glaube, denke, sage und tue, was ich will. Nicht das, was andere von mir erwarten. Das habe ich mir längst abgewöhnt. „Meine Mädels“ kommen mit Problemen zu mir, bei denen ich mit beiden Beinen fest in der Erde verankert sein muss. Die keinen Raum für Spielereien lassen.
Ich arbeite auch mit einer Frauengruppe, die es liebt, mit mir „herumzuspinnen“. Beispielsweise über eine lebbarere Welt zu diskutieren. Wir verlieren uns dann in anarchistischen Utopien. Das klingt für Euch nach „Chaos“? Im Gegenteil, es geht um eine andere „Ordnung“. Wir reden über menschliche Bedürfnisse, Lebensnotwendigkeiten und Freiheit, nur um festzustellen, dass „Mensch“ zu kurz kommt. Reden über unsere Erde, über deren Bedürfnisse und stellen fest, dass „Erde“ zu kurz kommt. Wir gelangen immer wieder zu dem gleichen Schluss: Etwas läuft falsch. Denn: Wir möchten in einer friedlichen Welt leben, in der die Natur respektiert wird. In der Liebe und Miteinander zum Alltag gehören. In der wir nicht an Einkommen, gesellschaftlichem Status, Herkunft oder Glauben gemessen werden.
Das bedeutet nicht „Gleichmacherei“, wie mancher vermuten mag. Die gibt es nicht. Jeder Mensch ist auf seine Weise einzigartig. In „unserer Welt“ darf und soll er das auch sein. In erster Linie Mensch! Kein Schäfchen für eine Religion, kein Stimmvieh für eine Politik, kein Soldat für einen Krieg, kein Sklave einer menschenverachtenden Wirtschaft.
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