Rosemarie Guhl
Wo bleibe ich?
Eine unterstützende Handreichung für all jene, die beruflich von sexualisierten Übergriffen gegen Kinder mitbetroffen sind
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Rosemarie Guhl Wo bleibe ich? Eine unterstützende Handreichung für all jene, die beruflich von sexualisierten Übergriffen gegen Kinder mitbetroffen sind Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorwort
Einleitung
Ausgangslage
Sexuelles Individuum
Beispiele aus der Praxis
Spontane Selbsthilfemöglichkeiten
Übungen, die helfen, Gedanken und Gefühle zuzulassen
Körperübungen, die trösten und stärken
Mit Schreibübungen neue Klarheit und Heilung erreichen
Übungen aus der künstlerischen Gestaltung, die Verkrustungen aufbrechen
Die eigene Sexualität hinterfragen, um offen zu werden
Berufliche Professionalität durch eine bewusste Haltung zu sich selbst
Zusammenfassung
Literatur
Weiterführende Informationen
Impressum neobooks
„Handreichung“ ist ein Wort, das wir zunächst nicht im Zusammenhang mit helfenden Berufen und dem Thema sexualisierter Übergriffe erwarten – auch „Mitbetroffene“ geht weiter als das übliche Bild von den helfenden Professionellen. Vielleicht lösen beide Begriffe Irritationen aus, provozieren Protest: ich bin doch als helfende Person nicht mitbetroffen, und ich brauche ja selbst keine Hilfe! Damit bricht es schon mit zwei Tabus: dass nämlich Helfende nicht aus der professionellen Distanz heraus fallen und mitbetroffen sein dürfen, - und dass andererseits überhaupt eine helfende Hand da sein könnte, die ihnen Unterstützung bietet.
Die Frage danach, wie authentisch und offen Betreuende nach der Intervention bei sexuellem Missbrauch sein dürfen und sollten, wie sie mit dem Thema gegenüber anderen Mitarbeiter/innen, Eltern, Kindern umgehen können, ist bisher eher vernachlässigt worden. Auch wenn die Klärung des „Falles“ geschehen ist, zuständige Institutionen Ihnen die Verantwortung für das weitere Wohlergehen und den Schutz des betroffenen Kindes abgenommen haben – Sie bleiben involviert, denn das Thema ist „aus dem Sack“ und alle, die es berührt hat, müssen einen Umgang damit finden. Viele Professionelle haben selbst einmal Missbrauch und sexualisierte Übergriffe erleben, und werden vermutlich noch anders betroffen sein, vielleicht mit eigenen schmerzlichen Erinnerungen ringen oder damit hadern, wieder mit diesem Thema konfrontiert zu werden. Hier kann die vorliegende Broschüre Anregung und Unterstützung bieten, für sich selbst zu sorgen, die eigenen Grenzen und Verunsicherungen wahrzunehmen und aktiv damit umzugehen. Beispielhafte Gedanken, die sicher häufig sind, die von Professionellen so aber nicht gesagt werden dürfen, - beispielsweise, weil sie negative Gedanken gegenüber dem betroffenen Kind beinhalten -, finden im Folgenden einen Platz und Verständnis. Es kann entlastend sein zu wissen, dass sie natürlich sind und nicht gegen eine professionelle Grundhaltung sprechen. Wichtig ist, sich ihrer bewusst zu werden und einen Umgang damit zu entwickeln. Hier finden Sie viele konkrete Übungen, mit denen Sie sich zu sich selbst und in ihre Mitte zurück bringen können.
Die Einbeziehung des eigenen Verständnisses und Verhältnisses zu Sexualität ist ebenso wichtig wie ungewöhnlich. Zwar sind sexualisierte Übergriffe in erster Linie Gewalt, aber da sie sich auf der sexuellen Ebene abspielen, berühren sie auch den intimen Lebensbereich der Sexualität, der Körperlichkeit. Was Freude, Verbindung, Liebe und Sinnlichkeit geben sollte, wird benutzt, beschmutzt, verletzt. Auch das berührt nicht nur die betroffenen Kinder, sondern fordert alle Mitbetroffenen, sich zu positionieren, oft auch zu schützen, um nicht selbst ein Gefühl von Scham, Ekel oder Hass zu entwickeln. Was diese Broschüre so einfühlsam wie offen klar stellt: sich zu schützen heißt nicht, dem Thema aus dem Weg zu gehen, und Verdrängung schützt nicht vor Verletzung. Vielleicht ist es heute - trotz allgegenwärtiger Sexismen in den Medien - noch schwerer, über die eigene Sinnlichkeit und Sexualität zu sprechen, als über Gewalt.
Die vorliegende Broschüre macht Mut, dieses Tabu zu brechen, damit die von Ihnen betreuten Kinder ebenso die Erlaubnis erhalten, über ihren Körper, ihre Sinnlichkeit und ihre sexuellen Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen. Dies ist ein emanzipatorischer Schritt und ein wichtiger Schlüssel zur Prävention von sexualisierter Gewalt gegen Kinder.
Minden, den 18.3.2013
Tara FrankeHebamme, Sexualpädagogin, Autorin
Besselstr. 16D-32427 MindenTel.: (0049) 571 3883770Fax: (0049) 571 3883110hebwerk@t-online.de
An wen wendet sich diese Broschüre?
Sie arbeiten in einem pädagogischen, medizinischen oder beratenden Beruf, etwa in einer Kindertagesstätte oder als Grundschullehrerin, Hebamme, Familienhebamme, als Kinderkrankenschwester, Familienhelferin, Sozialarbeiterin. Oder Sie sind in der Beratung, zum Beispiel als Gleichstellungsbeauftragte tätig. Oder Sie leisten vergleichbare Arbeit in einer Institution oder betreuen Eltern und deren Kinder im häuslichen Umfeld. Anwendung kann diese Broschüre bei allen Menschen finden, die mit Kindern und Eltern arbeiten, sei es im pädagogischen, medizinischen oder beratenden Bereich.
Missbrauchsgeschehen in Ihrem beruflichen Umfeld
Sie haben professionell gehandelt, nachdem es in Ihrer Einrichtung zu einem Fall von sexuellem Missbrauch oder zu dessen Verdacht kam. Sie haben für das vom Missbrauch betroffene Kind und deren Eltern alles Nötige in die Wege geleitet.
Alles ist getan, doch nun Sie stehen allein da.
Es ist auffällig, dass es kaum Hilfestellungen gibt, die es Ihnen ermöglichen, sich in akuten Situationen oder zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihrer Mitbetroffenheit auseinandersetzen. Diese Broschüre soll helfen, diese Lücke zu füllen und Ihnen Anregungen zu geben, freundlich mit sich selbst zu sein, sich zu akzeptieren und sogar zu lieben, sich nicht zu überfordern und sich zu schonen. Ebenso möchte diese Broschüre den Zusammenhang zu Ihrer eigenen Sexualität aufzeigen und helfen, diesen zu beleuchten. Diese Broschüre regt an, das Geschehen anzuschauen und sich generell mit dem Themenkreis Sexualität und Übergriffigkeit speziell bei Kindern zu befassen und eine Position zur eigenen Sexualität zu beziehen.
Zeitweise findet ein Missbrauch Eingang in die Medien, aber nur bei besonders spektakulären Fällen. Trotz dieser oft hysterischen Öffentlichkeit ist sexueller Missbrauch noch immer ein Tabuthema.
Das alltägliche Leid von Betroffenen zeigt sich stiller in den Beratungsstellen, bei Psychotherapeuten und in den Frauenhäusern. Es braucht oft lange, bis sich betroffene Erwachsene jemanden anvertrauen. Noch viel schwieriger ist es jedoch für die Kinder, überhaupt Gehör zu finden.
Die meisten Übergriffe ereignen sich im sensiblen Umfeld der Familie oder auf anderen Vertrauensebenen, wie in der Schule oder im Sportverein. Sich eines Missbrauchsgeschehnisses gewahr zu werden, ist eine derart verunsichernde Erschütterung, dass viele mit Ungläubigkeit reagieren. Denn es erscheint undenkbar, dass Eltern, Lehrer oder andere wichtige Personen die Würde und den Körper des Kindes so sehr missachten.
Sie begegnen im Laufe Ihrer Tätigkeit im Betreuungs- und Erziehungsbereich mehr als einem Kind und einem Elternteil, das von sexuellen Übergriffen betroffen oder bedroht wurde. Grund genug, sich mit sich selbst und den eigenen Reaktionen auseinanderzusetzen .
Читать дальше