Und ein anderes Mal, als wir in seinem Wagen zu einem mies bezahlten Auftritt dreihundert Meilen Richtung Süden fuhren, meinte Earl Darkgrey, dass er das gerne im Alltag könnte, in Songs zu sprechen, also mit den Menschen zu reden, als würde er singen.
Bevor ich anfange, ihn so richtig zu vermissen, lege ich die Gedanken an Earl Darkgrey lieber zur Seite und nehme stattdessen mein Handy zur Hand. Was habe ich zu verlieren? Nichts. Außerdem: Will nicht jeder wissen, wer abhebt, wenn man sein Geburtsdatum wählt? Es läutet einmal, ein zweites Mal, dann meldet sich eine Frau, sagt ihren Namen aber so schnell, dass ich ihn nicht verstehe. Was sie noch sagt und was ich verstehe, ist »Papier- und Schreibwaren«. Ich hole einmal tief Luft und frage sie, wie man am besten zu ihrem Laden kommt.
Ich ziehe die schwarze Hose an, die zwischen der Aufstrichkonserve und der von Tom Waits bekritzelten Serviette im Vorzimmer liegt, und das Joni-Mitchell-T-Shirt, das ich zwischen dem Gitarrenkoffer und dem einzigen Gegenstand finde, der mir je auf der Bühne zugeworfen wurde, einer Papierblume, die aussieht wie selbstgemacht. Sie kam aus dem Nirgendwo angeflogen, ich habe nicht gesehen, wer sie geworfen hat, würde aber eher mein letztes Paar Schuhe hergeben als diese Rose, die mehr ist als eine Rose, ganz egal, was eine einmal behauptet hat und andere seit damals wiederholen.
Mit der S-Bahn zwölf Minuten, zu Fuß eine Dreiviertelstunde, sagt Google. Ich gehe zu Fuß, spare das Geld für das Ticket und finde unterwegs vielleicht ein Lokal, in dem ich auftreten kann.
Ein Citroën DS. Mit so einem ist Belmondo gefahren in – verdammt, ich weiß den Film nicht mehr. Aber ich bin auf einmal froh, wieder in Europa zu sein. Das Gleiche ist mir in Amerika auch passiert. Als ich angekommen bin, fühlte ich mich zuerst verloren, dann ist ein wirklich alter Chevy die Straße herunterkommen, und plötzlich war das Heimweh weg. Das sind einfach Kühlerhauben, darunter hat ein ganzer Kontinent Platz.
Keine schlechte Gegend, ein Lokal nach dem anderen, und zumindest drei sehen aus, als könnten sie mit meiner Musik etwas anfangen. Mein Favorit heißt Drei Giraffen . Dort schaue ich heute Abend auf jeden Fall vorbei. Schon allein, weil ich wissen will, was es mit dem Namen auf sich hat.
Da vorne ist der Laden. Schön, die alte Schrift über dem Eingang. Eine Frau steht hinter der Kasse und unterhält sich mit einem Kunden. Sie sieht älter aus als ich, nicht viel, ist vielleicht Ende dreißig. Ich könnte nach einem Notizbuch fragen. Mein altes ist ohnehin fast voll. Neues Leben, neues Notizbuch. Gerade will ich hineingehen, da sehe ich den Zettel im Schaufenster. Verkäufer gesucht .
»Bin gleich bei Ihnen«, ruft sie, als ich den Laden betrete und die Tür hinter mir mit einem freundlichen »Bleib hier« satt ins Schloss fällt.
Über das Regal hinweg beobachte ich, wie sie dem Kunden seine Papierbögen zusammenrollt. Sie hat geschickte Finger, bestimmt spielt sie ein Instrument. Der Mann zahlt und geht, und sie kommt herüber zu mir.
»Und? Fündig geworden?«
»Ja«, sage ich und halte ihr das erstbeste Notizbuch hin.
»Gute Wahl«, sagt sie, als ich ihr zur Kasse folge, und ich weiß nicht, ob ich sie einfach so sympathisch finde oder weil sie mein Geburtsdatum als Telefonnummer hat.
Ich zahle und bleibe stehen.
»Der Zettel im Schaufenster«, sage ich, und sie schaut mich fragend an.
»Der Job«, setze ich nach.
»Ah«, sagt sie, und ein unentschlossener Moment huscht über ihr Gesicht, in dem ich mich von einem Kunden in einen möglichen zukünftigen Angestellten verwandle. Ihr Blick bekommt etwas Prüfendes und drängt mich, etwas zu sagen.
»Ich mag Papier«, höre ich mich und versinke, als ich mich höre, im Boden.
»Ist das so«, sagt sie und genießt meine Nervosität, weil sie damit wieder die Oberhand hat in unserem Gespräch.
»Und was haben Sie bisher so gemacht?«
»Ich war in Amerika«, sage ich und schwöre mir im selben Moment, den Laden erst wieder zu verlassen, wenn ich den Job in der Tasche habe. Nicht weil ich das Geld unbedingt brauche, das zwar auch, in erster Linie aber, weil mir plötzlich nichts wichtiger ist, als dass diese Frau mich mag. Und da fällt mir Earl Darkgrey ein, wie er gemeint hat, er möchte reden können, als würde er singen, und erzähle in Strophen, dass ich vom Tellerwaschen bis zum Rasenmähen alles gemacht habe, und im Refrain von meiner Musik.
»Ich bin also flexibel«, sage ich.
»Wann können Sie anfangen?«, fragt sie.
»Jederzeit«, sage ich.
Auf dem Heimweg behandelt mich die Stadt mit einem Mal anders. So, als würde ich jetzt dazugehören. Legt mir den Arm um die Schulter, zeigt mir übersehene Abzweigungen und versteckte Hinterhöfe und sagt dem Himmel: »Eine Spur mehr Blau für unseren Neuzugang«, was er auch prompt macht. Als ich mein Haustor aufsperren will, zieht mich die Stadt zurück. »Das war’s?«, fragt sie beleidigt, »schon genug gesehen?« Recht hat sie, was soll ich daheim. »Gut«, sage ich deshalb, »stell mich den anderen auch noch vor!«
Erst in der Dämmerung komme ich nach Hause, schiebe mir die Matratze ans Fenster und schaue dem Himmel beim Dunkelwerden zu. Tagträumen geht am besten, wenn es bald Nacht wird.
Irgendwann weckt mich die Sirene eines vorbeifahrenden Rettungswagens. 21.47, sagt auf Knopfdruck mein Telefon, und ich ziehe mich an.
Ein paar Meter vor den Drei Giraffen fällt mir eine Toreinfahrt auf, und einem spontanen Impuls folgend biege ich ab und gehe hinein in den Hinterhof, und da stehen drei Männer neben einer Metallltür, die aussieht wie der Hintereingang zur Küche, und rauchen. Ich erkenne sie gleich, die Tellerwäscher und Küchengehilfen, an ihren nassen Schürzen und den Haarnetzen, die sie noch aufhaben oder in der Hand halten. Einer, der an der Wand lehnt, wirft ein Wort in die Luft, und der neben ihm fängt es auf und beginnt ansatzlos seinen Rap, und gleich darauf sticht auch den Dritten der Rap, und Unkraut und aufgesprungener Asphalt werden zum Dancefloor und Tellerwäscher Nummer 1 zur Beat-Box, und fertig ist die Welt in der Welt. Dann entdecken sie mich, winken mich herüber, halten mir die Tür auf in ihr Universum, als könnten sie wittern, dass auch ich meine Zeit mit schmutzigen Tellern hatte, und ich klatsche mich hinein, lege eine zweite Rhythmusspur und bekomme als Dankeschön ein Nicken und dann sogar eine Strophe: »… we don’t bother ’bout an unknown brother, if he clasps the beat like the wind in the shutter …« Echt fix, die Burschen. Dann wird es Zeit, der Neugier Platz zu machen. Die Box lässt die Beats ausbröseln, und wir tauschen unsere Wohers und Wohins, unsere Schicksale so ähnlich, dass sie den Schulterschluss üben wie eine Football-Mannschaft vor dem Free Kick. Da haucht der Tänzer auf einmal ein »Silence«, und »still!« sagen auch seine Hände, die er der Luft wie einem großen Hund beruhigend auf den Rücken legt. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber wir alle erstarren wie Die Tellerwäscher von Rodin, genauso sehen wir aus oder würden wir aussehen, wenn Rodin jemals Tellerwäscher modelliert hätte. Eine gefühlte Ewigkeit stehen wir wie angewurzelt da, dann geht das Licht aus, das anscheinend über einen Bewegungsmelder funktioniert. Ich habe noch immer keine Ahnung, was jetzt kommt, doch da beginnt der Tänzer plötzlich einen Moonwalk, gleitet dahin wie dereinst Michael Jackson, aber in Superzeitlupe, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Der Rapper starrt abwechselnd auf sein Handydisplay, seinen moonwalkenden Freund und die Glühbirne über dem Kücheneingang und bewegt dabei lautlos die Lippen, als würde er mitzählen. Dann flackert die Glühbirne plötzlich auf, und der Moonwalker schaut fragend zum Rapper, der reckt die Faust in die Luft und sagt: »Fucking hell!«, sagt: »8:43«, und: »neuer Rekord«, und da kapiere ich. Jacko fingert sich zur Selbstbelohnung eine Zigarette aus der Hosentasche, steckt sie sich trocken in den Mund, dafür streicht der Rapper sein Zippo an, und im nächsten Moment macht Jacko aus dem Stand einen Salto, dass ihm sein Haarnetz vom Kopf fliegt, und landet so vor dem Rapper, dass er seinen Kopf nur noch leicht auf die Seite drehen muss, und schon zerschneidet seine Zigarette wie Zorros Degen die Zippoflamme.
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