Da hat sich Flo plötzlich aufgerichtet und mich groß angesehen.
»Bist du verrückt? Was sollen wir ohne Martha?«
»Es geht hier nicht um eine alte Freundin«, habe ich gleich zurückgeblafft, »sondern um unsere Putzfrau.«
»Martha ist für uns wie eine alte Freundin«, hat Flo daraufhin gemeint, »sie hat Mias Warzen weggezaubert, sie ist eine treue Seele, ehrlich, verlässlich, gründlich, keine Ahnung, wie du auch nur auf die Idee kommen kannst, Martha vor die Tür zu setzen.« Und damit hat er sich umgedreht und geschlafen.
Es gibt eine Sache, die Flo heilig ist und der niemand zu nah kommen darf. Ein Modell der Santa Maria . Das war das Schiff, mit dem Kolumbus Amerika entdeckt hat. Es steht bei uns im Regal. Flos Großvater hat es aus Streichhölzern gebaut. Flo hat seinen Großvater abgöttisch geliebt. Weil seine Eltern wenig Zeit hatten, ist Flo bei ihm aufgewachsen. Bis heute spricht er von ihm wie von einem Heiligen, und das Schiff staubt er jeden Abend eigenhändig ab. Leicht ist es mir nicht gefallen, aber nachdem Martha heute gegangen ist, ist es passiert.
Das glaubst du vorher nicht. Dass dir das Meer einmal zu viel wird. Dass dich das ununterbrochene Heranrollen der Wellen, das dauernde Rauschen der Brandung auch einmal fertigmachen kann. Du stehst bis zu den Knöcheln in der schaumigen Gischt und denkst dir, komm doch mal zur Ruhe! Lass nur eine einzige Welle aus! Schreist es auch laut in die salzige Luft hinaus, weil dich bei dem Lärm, den die Brandung fortwährend macht, ohnehin keiner hören kann. Jetzt rauscht die S-Bahn vor dem Fenster – auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber egal. Home is … wo man trotzdem lacht .
Andere ziehen mit Dutzenden Kisten um. Da ist die Wohnung voll, bevor sie beginnen, ihre Sachen auszupacken. Bei mir? Zwei Koffer, und einer davon ist die Gitarre. Heute früh habe ich mir den Spaß gemacht, alles, was ich besitze, in einer Reihe aufzustellen. Bei der Wohnungstür habe ich angefangen. Und bin nicht einmal bis zum Fenster gekommen.
Dann habe ich meine Gitarre aus dem Koffer genommen. Den leeren Koffer hingelegt und danach die Gitarre. So ist es sich ausgegangen bis zum Fenster. Die Gitarre hat ausgesehen, als würde sie ihren Hals Richtung Himmel recken. Sie vermisst die kalifornische Sonne. Ich bin gespannt, wann es bei mir so weit ist. Wann ich bereue, zurückgekommen zu sein.
34 Jahre alt, das Studium abgebrochen, die letzten zehn Jahre in Übersee, U.S.A. und Kanada. Und in dieser Zeit 218 Songs geschrieben. 21,8 Songs pro Jahr, 1,8 Songs im Monat, ungefähr einen halben Song pro Woche. Alle sieben Tage eine Strophe, alle vierzehn Tage einen Refrain. Das ist mein Problem: Dass ich für meine Art zu leben zu gut rechnen kann. Mein Geld reicht noch bis Monatsende.
Was mache ich hier?
Was würde ich dort machen?
Als ich in Kalifornien angekommen bin, habe ich nicht einen Augenblick lang überlegt. Weil im Evangelium nach Uncle Sam klipp und klar steht, dass wer ganz nach oben will, ganz unten anfangen muss. Und da gibt es schließlich nur einen einzigen Job.
Ich habe also Teller gewaschen. In einer Küche ohne richtige Fenster, nur eine Luke gab es, knapp unter der Decke, die sich kippen ließ, mit Blick auf gerade einmal eine Handbreit Himmel.
There is a heaven for everyone.
Wer den ganzen Tag nur einen schmalen Streifen Horizont sieht, lernt ihn zu schätzen. Und auf den Horizont kommt schließlich alles an in Amerika. Der Horizont ist die magische Grenze. Bis zum Horizont sind Schulden, aber zum Glück ist das Land groß genug, dass es dahinter weitergeht. Eigentlich sollte ja ein künstlicher Horizont vor Manhattan im Meer stehen und nicht die Freiheitsstatue. Eine Skulptur des Horizonts vor dem Horizont.
Im Leben eines Tellerwäschers schiebt sich übrigens ein Horizont voller Speisereste vor den Silberstreifen hoch über deinem Kopf. Und auf der anderen Seite endet deine Welt bei der schreienden Stimme deines Bosses.
Und trotzdem hat jeder amerikanische Musiker, der auf sich hält, einmal als Tellerwäscher gearbeitet und in dieser Zeit geniale Songs geschrieben. Zumindest steht das in jeder Musiker-Biografie, die mit A wie Amerika beginnt. Deshalb war ich anfangs auch geduldig und dachte bei den Rauchschwaden in der Küche an den Morgendunst über der San Francisco Bay, und die Erzählungen der Illegalen, die neben mir Teller schrubbten, hörten sich an wie die heiseren Weisheiten der staubigen Straßen. Und was brauchst du mehr als den Glauben an die Landschaft und das Gesetz der Straße, um den perfekten Song zu schreiben. Das dachte ich damals zumindest.
Was dir keiner sagt, was du aber ziemlich schnell merkst: Weil du die ganze Zeit über nasse Finger hast, kannst du deine besten Ideen gar nicht aufschreiben, und dass dir die Seifenlauge die Hornhaut an den Fingerkuppen aufweicht, ist nicht gerade angenehm beim Gitarrespielen. Meinen ersten Song habe ich geschrieben, eine Woche nachdem ich meinen Job als Tellerwäscher hingeschmissen habe.
Ich kenne hier keinen mehr und weiß noch nicht, wie ich das ändern kann. Tim anrufen? Dem ich vielleicht auch noch recht geben muss, weil er damals gekniffen hat und hiergeblieben ist. So weit ist es mit mir noch nicht.
Die letzte Stunde habe ich mir immer wieder eingebildet, dass mein Telefon in der Hosentasche vibriert. Ich habe es jedes Mal herausgezogen, aber da war natürlich nichts. Kein Anruf und auch kein SMS. Kann ja auch gar nicht sein. Es gibt ja niemanden, der weiß, dass ich hier bin, und keinen, der diese Nummer hat. Aber was schert sich die Hoffnung darum, was möglich ist und was nicht.
Natürlich könnte da jemand sein, genauso allein wie ich gerade, der einfach eine bestimmte Zahlenfolge in sein Telefon tippt, und gleich darauf klingelt es bei mir.
Also, interessieren würde es mich schon, wer abhebt, wenn ich mein Geburtsdatum wähle.
Eine Zeit lang habe ich in Portland, Oregon gelebt. Da gab es einen Songwriter, Künstlername Earl Darkgrey , genauso wie der Tee, nur dunkel, mit dem habe ich gespielt. Sein ganzes Gesicht war Bart, und der hat, neben viel Stuss, einmal auch etwas sehr Schönes gesagt. Als wir einmal übers Songschreiben geredet haben, hat er gemeint, dass die Wörter in Gruppen zusammenstehen, während sie darauf warten, dass sie dir einfallen, und dass, wenn du ein Wort denkst, sich die anderen ungefragt anhängen. Und weil Wörter ganz schön fest aneinanderkleben können, braucht es eine gehörige Kraft, um sie zu trennen und nur das zu sagen, was man auch wirklich sagen will. Und das ist der Grund, warum das Songschreiben so anstrengend ist.
Earl Darkgrey ist anschließend aufs Klo gegangen und wie immer eine Ewigkeit dort geblieben. Ich habe ja die Vermutung gehabt, dass ihm viele seiner Songs beim Scheißen eingefallen sind. Mir hat das Bild gut gefallen, wie er dasitzt mit heruntergelassenen Hosen, ein Blatt Klopapier auf dem nackten Oberschenkel, und versucht, mit einem abgekauten Kugelschreiber die Wörter zuerst auseinander- und danach wieder zusammenzubekommen. Und wie dabei immer wieder das Papier reißt und der Stift blaue Fahrer auf seinem Oberschenkel hinterlässt. Als er an dem Abend zwanzig Minuten später mit rotem Kopf zurückgekommen ist, hat er mir jedenfalls mit einem irren Blick tief in die Augen geschaut, fast so, als hätte er am Klo gerade eine kleine Teilerleuchtung erfahren, und gesagt: »Alles kommt auf den letzten Satz an. Viele glauben, dass der wie eine ins Schloss fallende Tür sein muss. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Der letzte Satz«, hat er gesagt, so geladen, als hätte er gerade mit ihm gekämpft, »darf nicht wie eine Tür sein, die ins Schloss fällt, sondern muss wie ein Fuß sein, der sich im letzten Moment in die zufallende Tür stellt, verstehst du«, und dabei hat er mir mit dem Finger an die Schulter getippt, als wollte er mir seine Weisheit unter die Haut drücken. Das war ein Moment, in dem ich viel dafür gegeben hätte zu sehen, ob sein Oberschenkel voller blauer Fahrer war.
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