3.4 Systematik: Orientierungsraster
3.4.1 Modell
Das »wissenschaftliche« an den Wissenschaften ist, wie erwähnt, das methodische Handeln als ein intersubjektiv überprüfbarer (und meist komplexer) Prozess. In dem Modell des Orientierungsrasters ( Abb. 3) werden die zentralen inhaltlichen Ebenen, Elemente oder Funktionsprinzipien methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit benannt. Sie sind damit auch bezüglich ihrer Anwendung überprüfbar. Die einzelnen interdependenten Ebenen des Rasters bilden jedoch ein holistisches System, für das gilt, dass – nach der alten aristotelischen Regel – das Ganze mehr oder qualitativ höher ist als die Summe seiner Teile (Übersummationsregel). Die einzelnen Elemente beeinflussen sich also in einem emergenten Prozess wechselseitig und lassen etwas entstehen, was allein durch die Aneinanderreihung der einzelnen Elemente nicht möglich gewesen wäre. Aus der zunächst statischen Aufzählung der inhaltlichen Ebenen wird dadurch ein dynamisches System wechselseitiger Beeinflussung. Die in Abbildung 3 angeführten Ebenen sind zentral für das Methodische Handeln in der Sozialen Arbeit. Sie sind notwendig, wenn vielleicht auch nicht für alle Eventualitäten der Praxis ausreichend, sie sind also je nach Fall u. U. ergänzungsbedürftig.
Das idealtypische Modell – knappe, abstrahierende Kennzeichnungen (Max Weber) – bildet die Struktur, die Gesamtheit der Elemente ab, die im Weiteren inhaltlich beschrieben werden (Inhaltsebenen) und die in Annäherung zu vollziehen sind, soll professionell methodisch gehandelt werden. Die integrierende Umsetzung der Elemente des Modells findet in der Praxis der Sozialen Arbeit im Prozess des zirkulären Problemlösens ( Kap. 3.5und Abb. 5) statt. Vom Methodischen Handeln in der Sozialen Arbeit kann, daraus abgeleitet, erst dann die Rede sein, wenn dieser Gesamtzusammenhang (Struktur und Prozess) beachtet und reflektiert wird. Die praktische Anwendung von Katalogen von Methoden oder Techniken, die in manchen Büchern und in der Aus- und Weiterbildung angeboten werden, mögen zwar in den Turbulenzen der Praxis kurzfristig hilfreich sein, Methodisches Handeln ist es jedoch nicht. So wird auch deutlich, dass spezifische Methoden in einen sehr viel größeren Zusammenhang eingebettet sind, ohne dessen Beachtung sie inhaltsleer bleiben müssten.
Ein Streben, komplexe Zusammenhänge erkennen zu wollen, ist einerseits eine wichtige Voraussetzung für ein fachlich kompetentes Handeln, in der Praxis sind allerdings Fachkräfte wie KlientInnen dadurch u. U. schnell überfordert, so dass es, um handlungsfähig zu bleiben, sinnvoll und professionell ist, bewusst und gezielt zu reduzieren ohne einem Reduktionismus anheim zu fallen. Das Orientierungsraster und das Modell des zirkulären Problemlösens bieten für Fachkräfte einen Wegweiser – eine Art Kompass –, im gefährlichen Gelände der täglichen Praxis immer wieder einmal zu reflektieren, wo sie sich gerade befinden und um vielleicht hier und da die anderen Ebenen und Prozessphasen wahrzunehmen und sich anregen zu lassen, strukturierter und gezielter weiterzuarbeiten, Routinen vorübergehend hinter sich zu lassen, Versuche nach dem Motto »Probieren geht über Studieren« abzulehnen und sich insgesamt neue kreative Möglichkeiten zu eröffnen. Dies alles und ganz besonders auch zum Wohle der KlientInnen.
Methodisch handeln in der Sozialen Arbeit heißt, die Zusammenhänge zwischen den komplex miteinander wechselwirkend verbundenen Bereichen des Orientierungsrasters von der Anthropologie bis zu den Techniken zu verstehen, umzusetzen und auch in der alltäglichen konkreten Arbeit mit spezifischen Methoden immer wieder zu reflektieren. Und es heißt auch, dass die Planung und Organisation dieses Handelns (Sozialplanung, Sozialmanagement) sich dieser Zusammenhänge bewusst sein muss, um auf ihre Weise effektiv zu sein.
Im Folgenden werden die einzelnen inhaltlichen Ebenen kurz beschrieben:
• Die Grundlage Sozialer Arbeit und damit zugleich die Basis jeglichen Handelns in der Sozialen Arbeit bilden nach dem Orientierungsraster Anthropologie, Sozialphilosophie und Ethik (
Kap. 4). In ihnen sind zugleich, hierarchisch gesehen, die »höchsten« Ziele und Werte und die Rahmenbedingungen dieses Handelns verankert. Die an diese Basis rückgekoppelte Definition von Sozialer Arbeit bestimmt die Arbeitsprinzipien (Handlungsnormen).
• Je nach Definition, je nach »Schule«, je nach bevorzugter Theorie von Sozialer Arbeit (Marburger 1979, Engelke u. a. 2009) sind die Konsequenzen für jeweils alle weiteren Schritte im Rahmen des Orientierungsrasters zu beachten. Eine »kritisch-rationalistische« Sozialpädagogik (Sozialarbeitswissenschaft i. S. von Lutz Rössner), eine »alltagsorientierte« Sozialpädagogik (Alltagsansatz i. S. von Hans Thiersch), eine »kritisch-emanzipatorische« Sozialpädagogik (i. S. von Hermann Giesecke oder Klaus Mollenhauer), eine »historisch-materialistische« Sozialpädagogik (i. S. von Walter Hollstein oder Karam Khella), eine »geisteswissenschaftliche« Sozialpädagogik (i. S. von Herbert Nohl oder Erich Weniger) oder eine »sozialökologische Soziale Arbeit« (i. S. von Germain und Gitterman oder Wendt), um einige Grundorientierungen zu nennen, werden sich von den Basisdefinitionen her u. U. erheblich voneinander unterscheiden und damit auch bezüglich der von ihnen bevorzugten Arbeitsformen, Interaktionsmedien, spezifischen Methoden (Problemanalyse-, Interventions- und Reflexionsmethoden), Verfahren und Techniken. Dennoch gilt auch hier der wissenschaftstheoretische Lehrsatz Schopenhauers von der Notwendigkeit der gleicherweisen Beachtung von Homogenität und Spezifikation (1986, S. 11). Es ist also zu fragen, wo bei den genannten Orientierungen übereinstimmende Aussagen zu finden sind und worin sie sich wirklich unterscheiden. Dies bedeutet dann auch, ausgehend von den homogenen Aussagen, homogene Arbeitsprinzipien, Arbeitsformen, Interaktionsmedien und Methoden zu formulieren und sich gleichzeitig der darüberhinausgehenden spezifischen Unterschiedlichkeiten bewusst zu bleiben. In differenzierter Form ist diese Frage bisher umfassend jedoch nicht bearbeitet worden. Dies kann auch hier nicht geleistet werden. Die Handlungsleitenden Konzepte, die vorgestellt werden ( Kap. 8), sind jedoch so offen, dass sie für unterschiedliche theoretische Konzepte grundlegend sind.
Abb. 3: Orientierungsraster: Inhaltsebenen Methodischen Handelns von der Anthropologie bis zur Technik (und zurück)
• Aus den theoretischen Konzepten der Sozialen Arbeit resultieren (in Wechselwirkung mit konkreten sozialen Problemen) letztendlich deren Arbeitsfelder, die nach Lebensalter und/oder nach Lebenslagen strukturiert werden können. Ohne Zuordnung von Handlungsfeldern zu theoretischen und erkenntnisleitenden Konzepten bleiben diese beliebig, Moden oder politischen Forderungen unterworfen.
• Theoretische Konzepte der Sozialen Arbeit (Engelke u. a. 2009) sowie die Praxiserfahrungen bilden die Basis für die Handlungsleitenden Konzepte. Unter Konzept wird ein Entwurf, ein Plan, ein Modell verstanden, in dem die einzelnen Inhalte in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden. Handlungsleitende Konzepte in der Sozialen Arbeit zeichnen sich dadurch aus, dass ein logischer Zusammenhang von den axiologischen Grundannahmen bis zu den konkreten Techniken hergestellt wird. Je nach Vollständigkeit der inhaltlichen Ebenen und der Differenziertheit ihrer Ausgestaltung ergeben sich unterschiedliche Differenzierungsgrade (
Kap. 3.4.2) von Handlungsleitenden Konzepten. Manche dieser Konzepte sind in vielen Arbeitsfeldern anwendbar, haben also einen hohen Grad von Allgemeingültigkeit, andere sind eingeschränkter lebensaltersspezifisch oder lebenslagenspezifisch.
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