In einer Welt, in der ich nichts perfekt tun oder beenden kann oder etwas auf Dauer in Ordnung bringen kann, ist es sinnvoll, das Bedürfnis nach Perfektion loszulassen. In der Bhagavad Gîtâ heißt es: „Selbst ein kleiner Fortschritt ist vollkommene Freiheit von Furcht.“ Kann ich das als einen mich befriedigenden Ansatz gelten lassen? Solange ich meistens mein Bestes gebe, die Dinge geschehen lassen kann, wie sie geschehen, und dann das Beste daraus mache, bin ich ganz und gar Mensch – und das ist eine überragende Errungenschaft. Die Alternative ist Anmaßung: „Ich mache es immer richtig; ich bin besser als alle anderen.“ Erleuchtung ist Liebe zur Gewöhnlichkeit, Amor fati . Es sind die Worte: „Ich lasse das los, was mehr ist, als ein Schicksal tragen kann.“
Fehler und Irrtümer sind keine Tragödien. Sie die Zutaten neuer Entdeckungen und weisen uns den Weg zu diesen. Sie zeigen uns Wege, die uns demütig machen, uns in Staunen versetzen und uns neue Horizonte eröffnen. Sie müssen nicht zu Bedauern oder Scham führen. Wir sagen Ja zu unserer Unvollkommenheit und akzeptieren unsere Fehler. Wir lernen, es das nächste Mal anders zu machen. Fehler sind kein Zeichen von Dummheit. Sie sind die Art und Weise, auf die Menschen lernen. Wenn wir uns an die größten Fehler unseres Lebens erinnern, ist das ein Weg, demütig zu bleiben, die tugendreiche Blume, die aus der Knospe des Ja erblüht. Demut führt dazu, dass wir uns verpflichten, unsere Fehler anzuerkennen und Wiedergutmachung gegenüber denen zu leisten, die wir vielleicht verletzt haben. Eine solche Demut ist eine Brücke zum Loslassen von Bedauern.
Nur das Ego macht Fehler. Keiner unserer Fehler, keines unserer Verbrechen oder keine unserer unwissenden Entscheidungen befleckt die makellose Reinheit unseres Höheren Selbst, unserer Buddha-Natur, unseres Christus-Bewusstseins – oder wie auch immer wir das umfassendere Leben in uns, das das Ego transzendiert, benennen wollen. Jenes Leben jenseits aller Bedingungen bleibt unser ganzes Leben lang gesund und unfehlbar in uns. In Augenblicken der Achtsamkeit und des Mitgefühls haben wir Zugang dazu. Es kann von nichts und niemandem beherrscht werden. Dieses verlässliche innere Leben ist eine Form von Schutz und ruft ein immenses Vertrauen in unser grundlegendes Gutsein hervor. Dies ist eine andere Weise, auf die die Existenzbedingungen zur Freude der spirituellen Reife führen können.
Die Dinge sind nicht immer so, wie wir sie gerne hätten, noch gehen unsere Pläne so in Erfüllung, wie wir es uns wünschen. Der Umstand, dass wir nicht die Kontrolle innehaben, bedeutet, dass die angemessene Haltung für unser Leben auf dem kleinen Floß unserer Welt Hingabe ist, Hingabe an das, was ist, wie es ist, wo es ist und wann es ist. Wir können mit aller Macht darum kämpfen, das zu ändern, was sich ändern lässt, doch in Hinsicht auf das, was wir nicht ändern können, ist nur Hingabe sinnvoll. Der Umstand, dass wir nicht die Kontrolle besitzen und dass Dinge geschehen, die wir weder erstrebt noch geplant haben, bedeutet, dass Kräfte am Werk sind, die größer sind als unser Ego. Diese Gegebenheit schenkt uns deshalb eine Ahnung der Göttlichkeit – wie Emerson sagte: „So nah ist Herrlichkeit unserem Staub.“
Was ist das Göttliche? Etwas, das immer am Werke ist – wir wissen nicht wer oder was, wir wissen nicht wie oder wann, aber wir wissen, warum: damit wir unsere Bestimmung erfüllen und zu einem einzigartigen Exemplar an Liebe und Weisheit werden können. Das Göttliche ist die Lebenskraft des lebendigen Universums, das sich danach sehnt, sich in allen von uns auszudrücken. Das Endliche ist ein einzigartiger Augenblick der Fokussierung auf das zeitlose Unendliche. Wir existieren aufgrund einer seligen Vision: Das Göttliche fokussiert in Zeit und Raum hinein, und wir fokussieren zurück. Wenn das Göttliche hier ankommt, ist es Ich, und wenn es dort ankommt, ist es Du, und wenn es außerhalb meines Fensters landet, ist es der Feigenbaum, unter dem Buddha erleuchtet wurde, indem er lange Zeit still in einer bejahenden Haltung saß.
Der zentrale Plan des ganzen Universums ist Evolution. Alles kooperiert im Laufe der Zeit miteinander, um die Welt zu einem gastfreundlicheren Ort für alle Geschöpfe zu machen. Der Plan der Natur ist für uns, die wir das Wort Ja lernen, ein Vorbild. Die Natur gestattet Wandel und fließt mit ihm. Die Natur ist geduldig und nicht nachtragend. Die Natur respektiert die wechselseitigen Verknüpfungen. Natur ehrt das Licht ebenso wie die Dunkelheit.
Der Ökologe Thomas Berry schreibt: „Unser neues Verständnis des Universums ist an sich eine Art von Offenbarungserfahrung. … Die natürliche Welt ist an sich das Primäre … die Gegenwart des Heiligen, des ursprünglichen moralischen Wertes … Die menschliche Gemeinschaft wird heilig durch ihre Teilhabe an der größeren planetarischen Gemeinschaft.“ Da wir zu der Natur in der Beziehung des Teils zum Ganzen stehen, bedeutet ganz und gar menschlich zu sein, ganz und gar natürlich zu sein. Der Begriff menschliche Natur besagt alles. Der heilige Antonius der Große, der der Natur nahe in einer Einsiedelei in der Wüste lebte, schrieb: „Meine Schrift ist die Welt der geschaffenen Dinge, und wann immer ich das Wort Gottes lesen will, liegt das Buch offen vor mir.“ Hier ist „das Wort Gottes“ eine Metapher für die Ganzheit des Menschen, die für Individuen nur erreichbar ist, wenn sie in ein globales Bewusstsein eintreten.
„Eine innere Ganzheit drängt uns ihre noch unerfüllten Forderungen auf“, schrieb Emma Jung so treffend. Ganzheit ist ein Drang der Psyche, eine motivierende Kraft im menschlichen Verhalten. Dieser Drang bildet die Grundlage des Selbstvertrauens. Er ist auch ein Anzeichen dafür, dass wir noch nicht vollkommen menschlich sind, dass wir noch nicht ganz verwirklicht sind. Deshalb ist Evolution ein spirituelles Projekt. In der Evolution geht es darum, wie der Drang zur Ganzheit erfüllt werden kann. Unsere spirituelle Praxis, unser Ja zu den Gegebenheiten des Lebens und unsere tugendhaften Entscheidungen sind unser Beitrag dazu. Nichts davon ist völlig individuell; wir sind eingebunden in eine kollektive Transformation des Bewusstseins. Ganzheit ist letztlich der Drang des Universums.
Die Natur schenkt uns eine Landkarte für die menschliche Reise zur Ganzheit, da sie nicht aus Individuen besteht, sondern ein Ökosystem ist, ein Netzwerk von Beziehungen. Die tägliche Geschichte des Kosmos führt uns die Themen eines jeden menschlichen Wesens vor Augen: Anfang, Ende, Verlust und Wiederherstellung, Metamorphosen von Licht und Schatten, vorhersehbare und unvorhersehbare Ereignisse, verlässliche Gesetzmäßigkeiten und Quantensprünge jenseits der Gesetzmäßigkeiten. Der Zen-Dichter Bashô sagt: „Alle, die wahre Vortrefflichkeit in einer Kunst erlangt haben, haben eines gemeinsam: Einen Geist, der der Natur gehorcht, der während aller vier Jahreszeiten eins mit der Natur ist.“ Individuelle Pläne sind daher zweitrangig gegenüber den größeren Zwecken eines fließenden Universums.
Da wir nicht lediglich passive Bewohner der Natur sind, sondern an ihr teilhaben, ist das innere Leben der Natur dasselbe wie unser eigenes inneres Leben. Anders gesagt: Mit der Natur eins zu sein heißt, mit der authentischen Tiefe unseres essenziellen Seins in Kontakt zu sein, mit dem Archetyp der inneren Göttlichkeit, der Lebenskraft der Wirklichkeit, der Liebe selbst.
Es handelt sich hier um eine Trinität: Die natürliche Welt, die menschliche Psyche und die göttliche Essenz – drei Aspekte einer einzigen zugrunde liegenden und allgegenwärtigen Wirklichkeit. Diese Gleichsetzung ist kein Pantheismus, sondern ein Vertrauen darauf, dass die unsere Menschheit bewegende Kraft dieselbe ist wie die, die das Universum antreibt. Göttlichkeit ist also unsere eigene lebendige Tiefe ebenso wie die des Kosmos’. Diese Vorstellung von Göttlichkeit bedeutet, die Psyche und ihre Psychologie, die Seele und ihre Spiritualität sowie die Natur und ihre Greifbarkeit als eine mystische Gleichung zu verstehen: Menschheit = Natur = Göttlichkeit.
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