Verstört schaute Silvia ihm nach. „Ist das bei ihm immer so?“
Jasmin, die in ihrer Nähe saß, zuckte wie gleichgültig mit den Achseln. „Immer nicht, er ist ja nicht mehr der Jüngste. Aber immer wieder mal.“
So diente also auch dieser Unterricht der Vorbereitung, wie alles hier, Claudia hatte es prophezeit und recht behalten. Vorbereitung auf einen fremden Mann und den vertrauten Gebieter. Wie selbstverständlich wurde hier praktiziert, was Wolfgang seinerzeit verlangt und sie entrüstet abgelehnt hatte: Du kannst mir mal schnell einen blasen. Nach diesen Wochen hier würde ihr ein solches Ansinnen wohl ganz normal erscheinen. Ihr Gatte konnte sich freuen.
Kurz nur blieben die Mädchen unbeaufsichtigt, gleich kam der Blonde herein und führte sie hinunter in ihr Gewölbe. Sie machten sich wie üblich für die Nacht bereit und wurden in die Zellen gesperrt. Suchend nach Wärme verkroch sich Silvia unter der Decke. Welch ein Tag! Welch ein Leben! Anstrengend war das Dasein als Sklavin, viel Kraft raubten diese Tage voller Furcht, voller Demütigung und Schande, gnädig fielen ihre Augen zu, keine neue Träne benetzte das geduldige Kissen.
Vom Schmerz und seiner Linderung
Verwirrende Träume erfüllten Silvias flachen Schlaf, wovon sie handelten, wusste sie nicht mehr, ihre Stimmung aber, Furcht, Scham, Sorglosigkeit, blieben zurück als Gruß an den neuen Tag. – Sorglosigkeit? Es war der Tag der Peitsche, fiel ihr siedeheiß ein und eine kalte Hand umfasste ihr Herz. Das Schlüsselklappern des dunkelhaarigen Aufsehers und seine rostige Stimme hatten sie geweckt: „Zeit zum Aufstehen, alles raus aus den Federn.“ Aber es gab keine Federn, kein bequemes Bett, nur die dünne Decke auf einer Pritsche, ringsum die Gitterstäbe und daran die Belagerer, von denen sie auch heute wieder erobert würde. Nein, dieser eine Traum, an den sie sich ganz klar erinnern konnte, der war gar keiner, der war ihr neues Leben.
Sie erhob sich wie gerädert, zupfte das bisschen Hemd zurecht und trottete gähnend zur Toilette. Sie war müde, als hätte sie den gestrigen Tag und die halbe Nacht bei schwerer Arbeit zugebracht, in einem Steinbruch vielleicht oder beim Lernen deutscher Grammatik und Textinterpretation. Überdies fühlte sie sich verkatert, als hätte sie zu viel Alkohol getrunken, den es hier in diesem Haus für sie doch gar nicht gab, womit sie auch Sklavin des gesunden Lebenswandels war, wie unbarmherzig man sie doch behandelte. Das kalte Wasser brachte Belebung und allmählich nahm sie ihre Umgebung wahr. Das aber war kein Fortschritt. Sie sah die roten Striemen auf Marias Rücken und Hintern, sie waren ordentlich gezeichnet, einer über dem andern in gleichmäßigem Abstand, etwas blasser geworden, aber immer noch erschreckend.
„Nein, es tut kaum noch weh.“ Flüsternd beantwortete Maria beim Abtrocknen Silvias besorgte Frage. „Es sieht schlimmer aus, als es ist.“
Ein Trost, aber nur ein schwacher. „Hätte ich es doch nur schon überstanden. Oder hätte ich doch gegessen oder getan, was die Herrin verlangte.“
Achselzuckend hängte Maria das Handtuch zurück. „Früher oder später wärst du sowieso dran gewesen.“
Claudia, die neben ihnen stand und Zahncreme auf ihre rosafarbene Bürste gab, schenkte Silvia ein verständnisvolles Lächeln. „Aber dein Tempo ist schon enorm. So schnell hat es keine von uns geschafft.“
Sie blickte besorgt zum Aufseher hin, der sich an ihren Worten aber nicht störte. Er stand mitten im Raum, hielt die Arme vor der Brust verschränkt und beschaute sich wie abwesend Marias geschundenen Rücken. Sein Werk. Der Anblick schien ihm kein schlechtes Gewissen zu bereiten, wie sollte es auch, er tat ja nur seine Pflicht, und das war ein Argument, das schon immer jede Untat gerechtfertigt hatte. Oder huschte etwa doch ein Ausdruck von Mitgefühl über seine Miene? Vermutlich hatte sich Silvia getäuscht. Gleich wandte sie den Blick zur Seite, ihn nur nicht wieder anstarren wie ein Kind den ehrfurchtgebietenden Parkplatzwächter.
Ein freundlich helles Aquamarin war die Farbe des Dienstags, so sah Silvia beim Anblick der „Schürzen“, die der ältere der beiden Jungs für alles ihnen brachte. Mit dieser Farbe dürfte sie das einzig Freundliche dieses Tages gesehen haben, dachte sie und ließ sich von Claudia die Schleife am Rücken binden. So tief glitt deren Hand dabei, dass die Regel, welche „unkeusche Berührungen“ verbot, sehr in Gefahr schwebte, verletzt zu werden. Ob ihr die Verletzung wehtun würde? Und welche war es noch mal? Ach ja, Regel acht. Mancher Regelverstoß war sehr angenehm, stellte Silvia fest. Wenn nur nicht der Preis so hoch wäre. – Bevor der Aufseher sie entdeckte, ließ die Hand wieder von ihr ab. Blieb als Zärtlichkeit nur ein liebevolles Lächeln.
Das wohlige Gefühl wurde von Silvias Kummer nicht vertrieben, ebenso wenig der Appetit beim Frühstück. Sie verzehrte die beiden ihr zugedachten Brötchen und das Croissant, dann noch ein halbes, das Isabel ihr überließ. Die Hälfte der halben Semmel, die ihr danach Maria anbot, lehnte sie allerdings dankend ab: „Ich sollte mal aufhören. Ich weiß gar nicht, weshalb ich heute Morgen so hungrig war.“
„Das kommt davon, wenn man abends nichts isst.“ Ein unterschwelliger Tadel in Jasmins Worten war nicht zu überhören.
„Ich werde mich bessern und fortan alle Leckereien klaglos hinunterschlingen, mit oder Pimentkerne.“ – O Gott, der Aufseher! Besorgt huschte Silvias Blick zu ihm hinüber. Er aber rührte geduldig in seinem Kaffee, lächelte verstohlen in sich hinein und schien die Unterhaltung nicht zu hören. Sie musste sich vor ihm nicht ständig fürchten, dachte sie beruhigt. – Aber wieso beruhigt? Natürlich musste sie sich vor ihm fürchten! Angstvoll schweifte ihr Blick hinauf zur Peitsche, die bedrohlich an der Wand hing, wartend darauf, dass eine grobe Aufseherhand sie zum Leben erwecke. Bald würde Silvias Rücken so aussehen wie der Marias, und vermutlich würde dieser Camus lesende und amüsiert lächelnde Folterknecht höchstpersönlich dafür sorgen.
Für weitere Ablenkung von ihrer Furcht sorgte oben in der Küche beim Geschirrspülen und unten beim Reinigen der Toiletten und des Duschraums der Poformer mit seiner aufreizenden Dicke. Immer wieder ließ er sie erzittern, immer wieder vertrieb ein Gefühl wohliger Lust die quälenden Gedanken; an diesem Vormittag lernte Silvia ihn zu schätzen.
Weniger hilfreich wirkten die Ketten, die sie nach dem Duschen und dem Schminken von Claudia angelegt bekam, der heutigen „Helferin“. Diese boten kein Vergessen, erinnerten ganz im Gegenteil daran, dass die Zeit verstrich und die Vollstreckung des Urteils bald bevorstand. Beim Mittagessen fehlte ihr der Appetit, kaum einen Bissen brachte sie hinunter, zum Glück aber gab es niemand, der sich daran störte. Die Herrin befand sich nicht im Raum und dem Aufseher war es egal, ob sie aß oder nicht. Der saß schweigend wie immer auf seinem Platz, schien weit entrückt, mit den Gedanken irgendwo, wohin niemand ihm folgen konnte, vielleicht auch niemand folgen mochte. Ob es eine schöne Welt war, in der er sich befand? Silvia bezweifelte es schwer. Vermutlich träumte er von Kerkern, Peitschen und anderen, raffinierteren Foltermethoden. Ganz sicher allerdings war sie sich ihres geringschätzigen Urteils nicht …
Als er von seiner imaginären Welt in den Raum zurückkehrte, Leben ihn erfüllte und er sich vom Stuhl erhob, begann ihr Herz aufgeregt zu pochen. Nun also war sie fast am Ende des Kreuzweges angelangt; bald musste sie sich nicht mehr fürchten, sondern nur noch leiden. Zögernden Schrittes verließ sie mit den anderen den Speisesaal und schwer nur trugen die weichen Knie sie über den Flur und die Stufen hinunter. Unten wurden sie vom blondhaarigen Aufseher und von der Herrin erwartet. Diese trug wieder ein schwarzes Kleid und schwarze Stöckelschuhe; ihr Haar war hochgesteckt wie bei ihrer ersten Begegnung, die Silvia unendlich lang zurückzuliegen schien. Kühl war der Blick, mit dem sie Silvia musterte, steinern war ihre Miene, ausdruckslos und unerbittlich. Silvia musste zwei Schritte vortreten, stand ganz alleine da, eine Angeklagte ohne Verteidigung.
Читать дальше