Als sie sich verabschiedeten, sagte keiner von ihnen: Auf bald. Sie wünschten einander nur »Viel Glück!«
Irgendwo hatte Charlotte gehört, dass es in Los Angeles nach Orangenblüten duften würde, doch es roch nach allem Möglichen, nur nicht nach Orangenblüten.
Im Hotel roch es nach Fäulnis und getrocknetem Schweiß, leicht überdeckt von einem Putzmittel, das sie an ihre Mutter erinnerte. Charlotte bewohnte ein Zimmer in der achten Etage eines vierzehnstöckigen Gebäudes in Downtown.
Der Zufall hatte sie hierhergeführt. Für diejenigen, die sich nur vom Schlag ihres Herzens leiten lassen, ist der Zufall der einzige Wegweiser.
Collin Goodwin wuchs in Long Beach auf, bei seinem Vater und der halbverrückten Polin. Die halbverrückte Polin war Collins Großmutter. Der Junge hatte nie geglaubt, dass dieses seltsame Wesen tatsächlich mit ihm verwandt war.
Tagsüber arbeitete der Vater in einer Werkstatt. Er war Automechaniker. Nach der Arbeit kam er nach Hause, aß, was die Polin gekocht hatte, und dann verschwand er wieder. Die Wohnung schloss er von außen ab. »Zu eurer Sicherheit«, sagte Donald Miroslaw Goodwin zu Collin und der Großmutter. »Damit euch niemand klaut.«
Meist kam er erst im Morgengrauen zurück, schlief ein Stündchen auf der Couch, bis der Wecker klingelte. Ein blechernes Ungetüm, das ein Eigenleben zu führen schien. An manchen Tagen schellte der Wecker so laut, dass ganz Long Beach es hören musste, an anderen Tagen summte er nur leise, als wollte er niemanden stören.
Die polnische Großmutter weinte viel. Ihr Englisch beschränkte sich auf wenige Wörter. Du. Da. Ja. Nein. Essen. Ich Pole. Du Pole.
Sie roch ranzig. Vor allem aus dem Mund.
Collin sprach kein Polnisch und sein Vater nur gebrochen. Als Kind hatte Donald die Sprache seiner Mutter beherrscht, aber dann wurde Agnieszka halbverrückt und redete nur noch Unsinn. Die polnischen Unterhaltungen verschwanden aus dem Hause Goodwin.
Niemand konnte oder wollte Collin sagen, wo seine Mutter war. »Sie ist weg«, war die einzige Antwort, die er jemals bekommen hatte. Obwohl er keine Erinnerung an seine Mutter hatte, fehlte sie ihm. Nicht die Frau, die ihn rausgepresst hatte. Eine Mutter zu haben, das fehlte ihm. Selbst eine Stiefmutter hätte genügt. Jemand, der nachts bei ihm blieb, ihn nicht mit der Verrückten alleinließ.
Der Vater verbot Collin, die Großmutter verrückt zu nennen. »Halbverrückt. Sie ist halbverrückt, und das ist ein gewaltiger Unterschied.«
Jedes Mal, wenn der Vater die Tür abschloss, setzte Collins Herz für einen Moment aus. Warum musste er sie einsperren? Wer würde sie schon klauen? Eine verrückte Polin und ein Kind, damit kann doch keiner etwas anfangen.
Eines Nachts, als Collin schon fast eingeschlafen war, schrie die Großmutter. Es war nicht das übliche Weinen, an das er sich einigermaßen gewöhnt hatte. Er hielt den Atem an, bewegte sich nicht, hoffte, dass es aufhören würde. Aber die Alte schrie und schrie und schrie. Er schlich ins Wohnzimmer. Wie ein Tier wälzte die Großmutter sich auf dem Boden.
»Sei still«, sagte Collin. »Sei doch bitte still.«
Vorsichtig berührte er ihre Schulter. Sie verstummte. Dann sah sie ihn an. »Du Pole«, sagte sie. »Du Pole. Ich Pole. Du Pole.«
Sie richtete sich auf. Packte ihn bei den Armen und schüttelte ihn, mit einer Kraft, die er ihr niemals zugetraut hätte. Mühsam machte er sich los. Lief zur Tür. Er hatte Angst. Wollte raus. Doch die Tür, die verdammte Tür war abgeschlossen.
Die Großmutter stand hinter ihm. »Du Pole«, brüllte sie. Er dachte, sein Trommelfell würde zerspringen. Er stieß sie zurück und rannte in sein Zimmer. Schob einen Stuhl unter die Klinke und öffnete das Fenster. Sie wohnten im dritten Stock. Es war zu hoch.
Rittlings setzte er sich auf das Fensterbrett. Ein Bein baumelte im Freien. Zumindest ein Bein war frei.
Am nächsten Tag erzählte er seinem Vater, was passiert war.
»Du übertreibst«, sagte er.
»Sie hat mich gepackt. Sie ist verrückt.«
»Halbverrückt. Agnieszka ist halbverrückt. Und was soll ich machen? Sie erschießen? Du bist doch ein Junge, ein starker Junge. Willst du mir etwa erzählen, dass der alte Lappen da«, er deutete auf die Großmutter, »dir Angst macht?«
»Bitte, Papa, schließ nicht mehr ab.«
»Damit euch jemand klaut, ja? Willst du das? Ja?«
»Papa. Bitte …«
»Hör auf mit der Heulerei.«
»Niemand klaut Leute einfach aus der Wohnung. Und schon gar nicht …«
»Schluss jetzt«, sagte Donald.
Collin wusste nicht, dass dem Vater schon einmal jemand aus der Wohnung geklaut worden war. Eines Abends war ein Mann gekommen und hatte Zoe Goodwin mitgenommen. Dass Zoe freiwillig gegangen und der Mann ihr Geliebter gewesen war, hatte Donald verdrängt. Ebenso die Tatsache, dass Zoe ihn schon lange nicht mehr geliebt, ihre Schwiegermutter immer gehasst und das Kind niemals gewollt hatte. Zoe wurde geklaut – das war Donalds Wahrheit. Er ahnte, wie zerbrechlich seine Wahrheit war, deshalb behielt er sie lieber für sich.
Seit jenem Abend saß Collin jede Nacht auf dem Fensterbrett. Ein Bein in der Freiheit. Erst wenn der Vater zurück war, legte sich Collin in sein Bett. Der Schlaf verschwand aus den Nächten und flüchtete in die Tage. Aus dem recht guten Schüler wurde ein ziemlich schlechter. Im Unterricht konnte Collin sich nicht konzentrieren, manchmal fielen seine Augen einfach zu.
Seit ein paar Monaten wohnte Collin in Ozzys Garage, die er sich mit einem alten Crosley Super Station Wagon teilte. Das taubengraue Gefährt war sein erstes eigenes Auto.
Nachdem er die Highschool abgebrochen hatte, war er von Long Beach nach Los Angeles gezogen, hatte in den Küchen sämtlicher Diners gearbeitet.
Ein eigenes Zuhause konnte er sich nicht leisten. Meist war er in den vier Wänden fremder Menschen untergekommen. Manchmal wurden aus den Fremden fast Freunde. Meistens nicht.
Ozzys Garage empfand Collin als Aufstieg. Er, sein Auto, ein Bett. Das war nicht viel und auch nicht sehr schön, für Collin aber war es Freiheit.
Er hatte Ozzy im Whisky kennengelernt. Ein paar Stunden vorher hatte Mary Collin verkündet, dass er ausziehen müsse.
»Ich werde heiraten«, hatte sie gesagt.
»Heiraten? Wen?«
»Er heißt Bill.«
»Wusste gar nicht, dass du einen Freund hast.«
»Ist ziemlich frisch.«
»Und ihr heiratet?«
»Ja. Er hat noch nicht gefragt, aber ich habe da so ein Gefühl, und es wäre komisch, wenn … na ja, wenn hier ein anderer Mann lebt. Ich will nicht, dass er denkt … Tut mir leid, aber du musst ausziehen.«
Collin hatte sich bei Mary beinahe wohl gefühlt. Die Miete war günstig, das Apartment hübsch eingerichtet. Mary wusch seine Wäsche, ohne ihm etwas dafür zu berechnen, und abends wartete eine warme Mahlzeit auf ihn. Eigentlich ideal, wären da nicht Marys Annäherungsversuche gewesen. Hände, Knie, die Collin wie zufällig berührten. Mary war groß und dick. Ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen mit zu engen Kleidern am Leib und zu viel Make-up im Gesicht.
Aber es war nicht ihr Äußeres, das Collin abschreckte, es war die Verzweiflung, die in ihren Augen flackerte. Ein Fünkchen dieser Verzweiflung wohnte auch in ihm. Manchmal, wenn Marys graue Augen ihn zu lange ansahen, glaubte er, in einen Zerrspiegel zu schauen. Das Gefühl, das er fürchtete, das er im Schach zu halten versuchte, wuchs unter ihrem Blick, breitete sich in ihm aus.
Ähnliche Augen wie Marys gab es zu Tausenden in Los Angeles. Menschen mit übergroßen Träumen, Menschen mit begrabenen Träumen und Menschen, die niemals Träume gehabt hatten.
Während Collin sich überlegte, wie es weitergehen würde, lief er ziellos durch die Nacht. Irgendwann landete er im Whisky a Go Go am Sunset Boulevard.
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