Sobald die Märzensonne aber den letzten Schnee von unseren Gartenwegen weggeleckt hatte, war ich draußen. Ich fuhr alle Wege auf und ab, bis ich erschöpft ins Haus zurückkehrte, denn es war noch zu kalt, um auf der Gartenbank Rast zu machen. Ab Mitte April aber, als die Sonne schon warm genug schien, konnte ich mich immer wieder mal auf der Bank vorm Haus ausruhen. Ich nahm meine kleinen Lieblinge aus ihrem Gefährt und legte sie auf die Bank, damit sie ein Sonnenbad nehmen konnten. Manchmal wechselte ich dort auch ihre Kleider, ehe ich sie zurück ins Wagerl bettete und erneut mit ihm auf den Wegen herumdüste. Einmal, meine Puppen lagen mal wieder auf der Bank zum Sonnenbaden, entdeckte Miezi, unsere Katze, den leeren Wagen, sprang hinein und wühlte sich unter der Decke ein. Das gefiel mir. Sofort waren meine Puppenkinder vergessen. Sie ihrem Schicksal überlassend, schob ich die Miezi durch den Garten. Das war doch etwas ganz anderes! Sie bewegte sich ab und zu, sie reckte und streckte sich, während die blöden Puppen nur starr und dumm im Wagen herumgelegen hatten. Von dem Tag an fuhr ich nur noch unsere Katze spazieren, aber immer erst, wenn sie freiwillig in den Wagen geklettert war. Ich habe sie nie hineingesetzt. Auch hielt ich immer rechtzeitig an, damit sie aussteigen konnte, wenn sie den Eindruck machte, dass sie genug vom Herumfahren hatte.
Mittlerweile war es Hochsommer geworden, und ich war schon fünfeinhalb, deshalb durfte ich das eingezäunte Grundstück verlassen und meinen Puppenwagen auf dem öffentlichen Weg schieben, der zu unserem Haus führte. Dieser Weg wurde nur von wenigen Menschen genutzt, weil es eine Sackgasse war, die an unserem Gartentor endete. Eines Tages, als ich dort wieder mal quietschvergnügt unsere Katze im Wagen schob, begegnete mir eine Spaziergängerin. »Na, fährst dein Pupperl aus?«, sprach sie mich leutselig an. Dabei warf sie einen Blick in mein Wagerl, um sich meine Puppe anzuschauen. Dann fauchte sie mich an: »Ja, Kind! Bist du narrisch? Das darfst doch net machen! Das ist ja Tierquälerei.«
Diese Aussage traf mich bis ins Mark. Nein, ein Tierquäler wollte ich nicht sein. Dafür hatte ich Tiere viel zu gern. Sofort kehrte ich um, ohne der Fremden zu erklären, dass die Katze immer freiwillig in den Wagen sprang. An der Hausbank ließ ich die Miezi aussteigen, verbannte den Puppenwagen in die Schlafkammer und rührte ihn für lange Zeit nicht mehr an.
In meiner Kindheit gab es bei uns im Haus noch keine Toilette. Stattdessen stand neben dem Hühnerstall ein Plumpsklo. In dem kleinen Häuschen befand sich ein Brett mit einem Loch. Das war ziemlich groß, und ich musste höllisch aufpassen, dass ich nicht in die Grube fiel, wenn ich mein Geschäft verrichtete. War die Grube voll, musste Opa sie leeren. Dazu benutzte er ein eimerartiges Gefäß, bei dem an einer Seite ein langer Stiel angebracht war. Damit schöpfte er den stinkenden Inhalt der Grube in eine Blechschubkarre. Sobald diese voll war, schob er sie in den Obstgarten und kippte sie aus. Anfangs rümpfte ich die Nase über sein Tun. Opa aber erklärte mir, dass wir nur deshalb so saftiges Obst und so dicke Nüsse hatten, weil er diesen Naturdünger in den Obstgarten ausbrachte.
Eines Morgens im April, als ich an den Frühstückstisch kam, herrschte große Aufregung: Opas Zähne waren verschwunden. Obwohl man das ganze Haus absuchte, blieben sie unauffindbar. »Du warst doch in der Nacht mal raus«, erinnerte ihn meine Mutter.
»Das stimmt«, sinnierte er. »Irgendwie muss das Nachtessen verdorben gewesen sein. Mir war nämlich sauschlecht.«
»Jetzt soll’s am Essen gelegen haben«, lachte die Mama. »Nein, das Essen war in Ordnung. Uns anderen ist ja auch nicht schlecht geworden. Dein Fehler war halt, dass du gestern Abend zu tief ins Glas geschaut hast.«
Wieso wird einem davon schlecht, wenn man zu tief ins Glas schaut?, dachte ich, sagte aber nichts. Doch ich nahm mir vor, in Zukunft niemals tief in Gläser zu schauen.
»Ja, mei«, dämmerte es dem Großvater nun. »Weil mir so schlecht war, hab ich ins Klo gspiebn (erbrochen). Dabei sind meine Zähne wohl mit in der Grube gelandet.«
Über dieses Missgeschick musste ich laut lachen. Das war doch wirklich lustig, dass so etwas hatte passieren können. Doch sogleich wurde ich wieder ernst, und nicht nur, weil ich Opas trauriges Gesicht sah. Mit Daumen und Zeigefinger prüfte ich, ob meine Zähne fest genug saßen.
Um wieder an sein Gebiss zu kommen, begann der Opa gleich nach dem Frühstück damit, die Grube in gewohnter Manier auszuschöpfen. Als er den ersten Eimer aus der Tiefe hochgezogen hatte, rührte er mit einem Stock drin herum, bevor er ihn in die Schubkarre ausleerte. Um sicherzugehen, stocherte er mit seinem Stock auch noch in der Schubkarre herum. Ohne Ergebnis! Sobald er die Brühe in den Obstgarten gekippt hatte, suchte er zusätzlich den Boden ab. Nichts! So arbeitete er sich Eimer für Eimer durch.
Anfangs stand ich untätig dabei und beobachtete staunend Opas Tun. Je länger sich seine »schöpferische« Tätigkeit aber hinzog, desto mehr litt ich mit ihm. Deshalb half ich ihm nach einiger Zeit dabei, im Gras unter den Obstbäumen zu suchen. Zwei Tage lang schöpfte er unermüdlich die übelriechende braune Brühe aus der Grube. Der Obstgarten war nachher bestens gedüngt, nur sein Gebiss hatte Großvater nicht gefunden. Vermutlich hatte es sich in einer Ecke der Grube versteckt, so mutmaßte der Opa, in die man mit dem runden Eimer nicht hinkam. Noch oft wurde diese Geschichte in geselliger Runde zum Besten gegeben. Dem Opa war das zwar immer furchtbar peinlich, die Gäste aber lachten sich kaputt.
Da der Opa ohne Zähne nur noch Brei essen konnte, entschloss er sich nach einiger Zeit, einen Zahnarzt aufzusuchen, um sich ein neues Gebiss anfertigen zu lassen. Dort musste er immer wieder hingehen, bis der Zahnarzt es so zurechtgefeilt hatte, dass es wirklich schmerzfrei saß.
Immer wenn der Opa seinen wohlverdienten Mittagsschlaf hielt, spielte ich bei schönem Wetter allein im Garten, entweder in dem großen Sandkasten, den er für mich angelegt hatte, oder ich zog auf der Hausbank meine Puppen an und aus. Bis ich fünf Lenze zählte, hatte ich schon eine ansehnliche Sammlung beisammen. Denn jedes Jahr zu Weihnachten schickte mir meine Patin, die in Nürnberg lebte, eine weitere Puppe, und meine Mama fertigte hin und wieder neue Kleider für sie an.
In einer Ecke des Grundstücks befand sich ein kleiner Teich. Den hatte der Opa aber nicht für mich angelegt, sondern für seine Schwimmvögel. Sie tummelten sich wirklich begeistert darin, paddelten aber ebenso gerne in dem kleinen Bach, der auf einer Seite das Grundstück begrenzte. Die Böschung, die zum Bach hinunterführte, war ziemlich steil, nur an einer Stelle ging es sanfter hinab. Diese Stelle hatte Opa so abgegraben, dass meine Mutter ohne Mühe mit ihrem Waschkorb hinuntergehen konnte, um die Wäsche zu schwenken. Denn eine Waschmaschine besaß sie damals noch nicht. Damit sie es bei ihrer Arbeit leichter habe, hatte Opa eine Art halben Holzkasten gezimmert und am Bachufer angebracht. In diesem konnte sie beim Wäscheschwenken bequem knien.
Nicht weit davon entfernt führte ein schmaler Steg über den Bach, der an einer Seite ein Geländer hatte. Auch diesen hatte Opa eigenhändig gezimmert, obwohl er kein gelernter Schreiner war, aber er konnte einfach alles. Das hölzerne Brücklein hatte ich zwar schon oft gesehen, aber ich war nie auf die Idee gekommen, es zu betreten, geschweige denn hinüberzuwandern. Eines schönen Sommertages, ich saß auf der Gartenbank, sah ich, wie ein Mädchen, das in meinem Alter sein mochte, über diesen Steg getrippelt kam.
»Ich bin die Nanni«, stellte sie sich vor. Deshalb nannte auch ich meinen Namen: »Ich bin die Lisi. Eigentlich heiße ich Elisabeth, doch alle sagen Lisi zu mir.«
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