Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2021
© 2021 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelfoto: © Georg Fruhstorfer – Bayerische Staatsbibliothek
München/Bildarchiv
Lektorat: Christine Rechberger, Rimsting
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
eISBN 978-3-475-55470-4 (epub)
Worum geht es im Buch?
Roswitha Gruber
Vom harten Leben einer Bauernmagd
Nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter kommt Franziska auf den Hof ihrer Tante, wo sie klaglos alle Schikanen erträgt, die ihr überwiegend vonseiten des Onkels zuteilwerden. Doch mit 21 flüchtet sie zu einem Großbauern, bei dem sie mit offenen Armen aufgenommen wird. Im Winter arbeitet sie dort als Stallmagd und im Sommer als Sennerin. Obwohl sie auch hier hart arbeiten muss, gefällt es ihr auf dem Berghof, denn die Bauersleute sind sehr nett zu ihr. Doch als nach dreißig Jahren der Hof an die Jungbauern übergeht, wird sie erneut schikaniert. Aber sie ist nicht gewillt, die Demütigungen und die Ausbeutung durch den Jungbauern und seine Frau länger zu ertragen.
Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane recherchiert sie ausführlich und nähert sich in langen, intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.
Inhalt
Wie es begann
Schmerzliche Verluste
Was ist ein Flietscherl?
Kriegszeit
Es weht ein anderer Wind
Meine neue Familie
Mein erster Almsommer
Stallmagd
Almleben
Hohes Glück – tiefes Leid
Ende des Almlebens
Ein neuer Lebensabschnitt
Nachlese von Roswitha Gruber
Wie es begann
Seit wir in Reit im Winkl wohnen, unternehmen mein Mann und ich immer wieder mal größere Wanderungen in den Bergen, natürlich nur im Sommer. Dabei trifft man auf die eine oder andere bewirtschaftete Hütte, wo man seinen Durst und seinen Hunger stillen kann. Dazwischen sieht man aber auch aufgegebene Senn-Hütten, vor denen man auf der Hausbank in der Mittagssonne sitzen kann und zudem eine wunderschöne Aussicht hat.
Nähern wir uns einer solchen Hütte, vergewissern wir uns vorher, ob sie wirklich verlassen ist. Erst dann setzen wir uns auf die Bank und ruhen uns aus, genießen die Sonne und die Aussicht, ehe wir unsere Wanderung fortsetzen.
Im Sommer 2014 nun kamen wir an eine Hütte, auf deren Bank wir schon öfters Rast gemacht hatten. Schon von Weitem sahen wir, dass »unser« Platz besetzt war. Beim Näherkommen erkannten wir, dass es eine alte Frau war, die verträumt in die Berge blickte. Sie schien uns nicht zu bemerken. Wir wollten auf unsere Rast verzichten und diskret an der Hütte vorbeigehen. In dem Moment erblickte sie uns. Wir grüßten freundlich und wollten weiterwandern.
Da sprach sie uns an: »Lauft’s doch net weg. Auf dem Bankerl ist Platz für uns alle.«
Schon rückte sie ein wenig zur Seite. Das Angebot nahmen wir gerne an. Neugierig wie mein Mann ist, fragte er sie zunächst nach ihrem Alter. »Ja, was meinst, wie alt darf ich sein?«, kokettierte sie ein wenig. Ab 1000 Meter Meereshöhe duzt man jeden, ob man ihn kennt oder nicht.
»Also, achtzig darfst schon sein«, meinte er. Sie lachte: »Da hab ich ein bisserl mehr auf dem Buckel. 88 bin ich.«
»Donnerwetter, dafür hast dich aber gut gehalten. Du bist gewiss die Besitzerin der Alm?«
»Naa, naa, die Besitzerin bin i net«, gab sie bescheiden zu.
»Dann bist du auch eine Bergwanderin, die hier eine Rast eingelegt hat?«, setzte mein Mann das Gespräch fort.
»Wie man’s nimmt. Eine Bergwanderin bin ich schon. Aber ich gehe immer denselben Weg. Jedes Mal treibt es mich zu dieser Hütt’n.«
»Wieso das?«
»Weil ich zu der Alm eine ganz besondere Beziehung habe.«
Diese Aussage machte uns noch neugieriger. »In welcher Beziehung stehst du denn zu der Hütte?«, wollte mein Mann wissen.
»Über dreißig Jahre lang war ich Sennerin hier heroben.«
Nun schaltete ich mich in das Gespräch ein: »Sennerin? Würdest du mir ein bisschen davon erzählen?«
»Freilich, wenn es dich interessiert.«
»Das interessiert mich sogar sehr.«
Schon begann sie zu erzählen, zunächst über ihre Kindheit. Das fand ich so spannend, dass ich sagte: »Darüber könnte man glatt ein Buch schreiben.« Für meine Bücher bin ich nämlich immer auf der Suche nach guten Geschichten.
Sie lachte: »Ein Buch? Über mich? Eine so interessante Person bin ich doch gar nicht.«
»Sag das nicht. Das, was du mir bis jetzt erzählt hast, ist schon ungewöhnlich, und ich bin mir sicher, da kommt noch mehr, das meine Leser interessieren wird.«
»Ja, wenn du meinst, an mir soll es nicht liegen.«
Nun lässt sich ein ganzes langes Menschenleben nicht in einer halben Stunde auf einer Hüttenbank im Sonnenschein erzählen. Außerdem begann die Sonne langsam von uns wegzuwandern. Also fragte ich sie, ob ich sie daheim besuchen dürfe, und bat um ihre Adresse. Diese gab sie mir bereitwillig. »Mein Name ist Franziska, aber alle Welt nennt mich Fanni.«
Im folgenden Winter, als der Schnee in den Bergen unsere Wanderfreude bremste, besuchte ich Fanni immer wieder mal in ihrem kleinen Dachstübchen. Was sie in ihrer lebhaften Art erzählte, nahm ich mit meinem Kassetten-Rekorder auf.
Nicht nur ich hatte einen Gewinn von ihrem Bericht, sondern sie selbst auch. Nach der letzten »Sitzung« seufzte sie: »Schade, dass wir schon fertig sind. Es hat mich richtig gefreut, dass ich mein Leben mal jemandem erzählen durfte.«
Das liegt alles schon einige Jahre zurück. Nun endlich bin ich dazu gekommen, aus Fannis Erzählungen ein Buch zu schreiben. Beim Lesen ihrer Lebensgeschichte wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung.
Roswitha Gruber
Nun lasse ich die ehemalige Sennerin zu Wort kommen.
Schmerzliche Verluste
Wenn ich ganz weit zurückdenke, sehe ich zwei kleine Mädchen, die auf Omas Bauernhof vor dem Haus mit der Katze spielen. Auf einmal geht die Haustür auf. Unsere Mutter tritt heraus in ihrem dunklen Mantel mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf. In einer Hand trägt sie eine Reisetasche, in der anderen ihre Handtasche. Wir laufen auf sie zu. »Mama, wo willst du hin?«, frage ich verwundert.
»Mama, willst du hin?«, echot meine kleine Schwester.
Mama antwortet: »Ich fahre in die Stadt.«
»Wann kommst du wieder?«, will ich wissen.
»Tommst du wieder?«, hängt meine kleine Schwester ihre Frage an.
»Das kann ich nicht sagen.«
Obwohl ich keine Ahnung habe, was eine Stadt ist, bettele ich: »Nimm uns mit.«
»Das geht nicht.«
Doch so schnell lasse ich mich nicht abwimmeln: »Warum nicht?«
»Das kann ich euch nicht erklären, das versteht ihr doch nicht.«
Ungerührt schreitet sie davon. Da sie die Hände nicht frei hat, hängen wir uns an ihre Taschen. Sie schüttelt uns ab wie lästige Insekten und setzt ihren Weg fort. Als wir ihr noch ein Stück nachlaufen, schimpft sie: »Was fällt euch ein? Kehrt sofort um! In der Stadt kann ich euch nicht brauchen. Seid brav und macht der Oma keine Scherereien.«
Wie geprügelte Hunde kehrten wir zum Haus zurück. Wir fassten uns an den Händen und liefen in die Küche. Die Oma schloss uns in die Arme. Schluchzend fragte ich: »Warum ist die Mama weggegangen?«
Читать дальше