Wir Dirndl mussten abspülen, Staub wischen, den Tisch decken und abräumen und die Hühner füttern. Bald kamen die großen Ferien und unsere kleinen Aufgaben wuchsen. Dennoch blieb uns eine angemessene Zeit zum Spielen. Nur an den Wildbach gingen wir nie wieder. Zu schmerzlich war in unserer Erinnerung, dass wir durch diesen Bach den kleinen Toni verloren hatten. Auch hatten wir Angst, uns könnte das gleiche Schicksal ereilen wie ihn.
Bald fiel mir auf, dass meine Großmutter ihre Wäsche nicht mehr waschen konnte. Diese Aufgabe übernahm Tochter Heidi für sie mit. Mich dagegen versorgte die Oma nach wie vor gut. Sie kochte für uns beide und achtete darauf, dass ich bei jeder Witterung passend gekleidet war.
Nach den Sommerferien kam ich in die zweite Klasse und verließ nun jeden Morgen mit den anderen Kindern das Haus. Natürlich hatte mir die Oma immer ein Pausenbrot in den Ranzen gepackt. Als wir davonsprangen, winkte sie uns nach, bis wir um die Biegung verschwunden waren.
Als am zweiten Schultag die neuen Erstklässler auftauchten, sah ich zu meiner Freude meine Schwester wieder. Sie war aber nicht mehr die Anni, die ich gekannt hatte. Ihre Lebhaftigkeit hatte sie verloren und sie verhielt sich mir gegenüber fremd. Selbst als ich einige Tage lang immer wieder auf sie zugegangen war, kam die alte Vertrautheit nicht mehr auf. Dann wagte ich einen letzten Versuch: »Anni, magst nicht mal die Oma besuchen? Die würde sich gewiss freuen.«
»Da muss ich erst mal daheim fragen, ob ich das darf.« Gespannt wartete ich auf ihre Antwort, die sie mir am nächsten Morgen in der Pause gab: »Der Papa erlaubt nicht, dass ich euch besuche. Und du darfst auch nicht zu mir kommen.«
Auch gut, dachte ich. Mir blieb ja meine Cousine Vroni, mit der ich mich gut verstand. Außerdem gab es in der Schule so viele Mädchen, mit denen man in der Pause spielen konnte. Die eine Hälfte des Schulhofes war für die Dirndl reserviert, die andere für die Buben. Ständig patrouillierte ein Lehrer an der gedachten Linie hin und her, damit es nur ja nicht zu Grenzverletzungen kommen sollte. Ja, damals herrschten noch strenge Sitten!
Wir Mädchen machten meist Kreisspiele oder Seilspringen. Der einen oder anderen war es gelungen, daheim einen Kälberstrick zu entwenden, der bereits schadhaft war. Band man zwei solcher Stricke aneinander, war das Seil lang genug, sodass es von zwei Mädchen geschlagen werden konnte. Die anderen versuchten hineinzulaufen und im gleichen Takt zu springen. Gelang das einer nicht, sodass sie das Seil zum Stillstand brachte, musste sie eine der Schlägerinnen ablösen und diese durfte dann springen.
Was die Buben in ihrer Ecke spielten, bekamen wir nicht mit, weil wir zu sehr mit unseren eigenen Spielen beschäftigt waren.
Eines Morgens Ende September schien die Sonne schon hell ins Zimmer, als ich aufwachte. Komisch, dachte ich, hat die Oma etwa vergessen, mich zu wecken? Schnell sprang ich aus dem Bett, schlüpfte in meine Kleidung und lief in die Küche. Keine Oma zu sehen, kein Frühstückstisch gedeckt. Vielleicht war die Oma krank. Mit einem unguten Gefühl betrat ich ihre Kammer, wo sie mit geschlossenen Augen im Bett lag und noch zu schlafen schien. »Oma! Oma!«, rief ich. Doch sie rührte sich nicht. Deshalb trat ich näher heran und versuchte sie wachzurütteln. Das nützte auch nichts. In Panik griff ich nach ihrer Hand. Diese, die sonst immer warm und weich gewesen war, war kalt und steif. Schreiend lief ich die Treppe hinauf: »Die Oma! Die Oma!«
Die Kinder der Tante kamen gerade ordentlich frisiert und mit ihren Ranzen auf dem Rücken aus der Küche, und ich stand da mit zerzausten Haaren.
»Was ist los, Fanni?«, fragte die Tante beunruhigt. »Die Oma! Die Oma!«, schrie ich abermals. Mehr brachte ich nicht heraus.
Tante Heidi lief nach unten. Sofort hatte sie begriffen, was geschehen war. Sie machte mir ein Pausenbrot und steckte es in meinen Ranzen. Zum Frühstücken blieb mir keine Zeit mehr. »Ihr geht jetzt wie immer in die Schule, das lenkt euch am besten ab.«
Ihren Söhnen trug die Heidi auf, den Doktor und den Totengräber zu bestellen und dem Herrn Pfarrer Bescheid zu sagen. Wir Mädchen sollten die Buben beim Lehrer entschuldigen, weil sie etwas zu spät kommen würden.
In der Schule konnte ich mich nicht konzentrieren. Immer wieder sah ich das Bild der Großmutter vor mir, wie sie leblos in ihrem Bett lag. »Was ist mit dir los?«, fragte die Lehrerin, der meine abwesende Haltung auffiel.
»Die Oma, meine Oma«, stieß ich hervor. »Ich glaube, sie ist tot.«
Endlich kamen die erlösenden Tränen und ich löste mich aus meiner Schockstarre. Auf dem Heimweg redeten wir Enkel unentwegt über die Großmutter. Als wir heimkamen, hatte der Leichenwagen sie bereits abgeholt. Von außen sah alles aus wie immer, nur drinnen in Omas Küche erwartete mich kein liebevoll gedeckter Tisch. Stattdessen fing mich Tante Heidi an der Haustür ab: »Zum Essen kommst du natürlich zu uns.« Sie hatte gewiss etwas Gutes gekocht, doch vor Kummer brachte ich kaum einen Bissen hinunter. Nach dem Mahl sagte sie: »Bei der Beerdigung muss ich mit deiner Mutter klären, was aus dir wird.«
Hoffentlich muss ich nicht zu meiner Mutter, war mein erster Gedanke. »Darf ich bei euch bleiben?«, flehte ich geradezu. »Ich will auch immer brav sein und dir helfen, so viel ich kann.« Sie fuhr mir mit der Hand liebevoll über den Kopf: »Ist schon recht, armes Hascherl. Ich würde dich schon gern nehmen. Das habe ich aber nicht allein zu entscheiden. In dieser Sache hat deine Mutter das letzte Wort.«
Nach einigen Tagen fand die Beerdigung statt, an der wir Kinder nicht teilnehmen durften. Das sei nichts für uns, wurde uns gesagt. Wir gingen an diesem Tag wie üblich zur Schule. Allerdings verließen Onkel und Tante, völlig in Schwarz gekleidet, am Morgen mit uns das Haus. Nach Unterrichtsschluss holten sie uns an der Schule ab und stiegen mit uns gemeinsam den Berg hinan. Zum Mittagessen wärmte Heidi für uns Kinder eine Suppe auf, die sie noch vom Vortag hatte. Sie und der Onkel hatten bereits im Gasthaus am Beerdigungsmahl teilgenommen.
Was meine Tante mit meiner Mutter besprochen hatte, erfuhr ich nicht. Das Gespräch muss aber zu meinen Gunsten ausgefallen sein, denn noch am selben Tag schaffte Heidi mit ihrem Mann mein Bett in Vronis Kammer und hängte meine Kleidung in deren Schrank. Onkel Sepp zeigte nicht gerade große Begeisterung, dass ich von nun an zur Familie gehörte. Er tat mir aber auch nichts und gab mir nie ein böses Wort.
Innerhalb des Hauses fand ein weiterer kleiner Umzug statt. Die Familie der Tante zog nach unten in Omas Küche und Stube. Dadurch wurde das Leben für uns alle wesentlich bequemer. Wir brauchten das Brennholz nicht mehr in den ersten Stock zu schleppen, und vor allem brauchte man das Wasser vom Brunnen nur noch ins Erdgeschoss zu tragen.
Bisher hatten wir vier Kinder unsere Freizeit ohnehin wie Geschwister verbracht. Nun wurde ich vollends in die Familie integriert. Von da an nannte ich Onkel und Tante auch Mami und Dati, wie ich das von deren Kindern gehört hatte. Dennoch fehlte mir die Großmutter sehr, und ich weinte mich oft in den Schlaf. Doch mit der Zeit heilte auch diese Wunde.
Eines Tages aber wurde sie durch ein Erlebnis in der Schule wieder aufgerissen.
Aus irgendeinem Grunde wurden in der Klasse die Vor- und Zunamen der Kinder verlesen. Wenn man seinen Namen hörte, musste man die Hand heben. Dabei fiel mir auf, dass Anni und ich den gleichen Familiennamen hatten, während Vroni, die bereits im dritten, und ihr Bruder Karl, der schon im vierten Schuljahr war, einen anderen Namen hatten. Das war nicht nur mir aufgefallen, sondern Vroni und Karl ebenfalls. Diese unterschiedlichen Namen bildeten nun das Gesprächsthema am Mittagstisch. »Warum hat die Fanni einen anderen Familiennamen als wir?«, wollte Karl wissen.
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