»Das ist ganz einfach zu erklären«, ergriff Dati, der sonst ein ziemlich Stiller war, das Wort. »Weil ihr unterschiedliche Mütter habt. Ihr drei«, er deutete mit dem Finger auf seine Sprösslinge, »seid die Kinder von Heidi, während die Fanni das Kind von deren Schwester Bärbel ist.«
Mit dieser Erklärung gab sich Gregor aber nicht zufrieden. »Wenn unsere Mütter Schwestern sind, dann müssten wir trotzdem den gleichen Namen haben.«
»Eben nicht«, erläuterte Dati. »Eure Mutter hat mich geheiratet und mit der Heirat meinen Namen angenommen. Fannis Mutter ist ledig, trägt daher noch ihren Mädchennamen und hat den an ihre Tochter weitergegeben.« Nun kannten wir uns einigermaßen aus.
Beim Spielen waren wir Geschwisterkinder meist ein Herz und eine Seele. Manchmal aber entstand aus nichtigem Anlass ein Streit. So kam es vor, wenn wir bei uns auf dem Hof mit Schussern spielten (in anderen Gegenden nennt man die kleinen Kugeln Klicker, Mürbel, Murmeln, Marbel oder Märbel), dass einer meinte, er sei übervorteilt worden. Andere Kinder besaßen schöne bunte Glaskugeln oder auch welche aus Metall. Doch wir waren mit unseren einfachen billigen Tonkugeln zufrieden und spielten so ernstlich damit, als seien sie etwas Wertvolles. Die Schusser galt es in eine Kuhle zu werfen, zu schnicken oder zu schießen.
Verlor einer der Cousins einige Tonschusser an mich, wurde er wütend und rief mir zu: »Du gehörst ja gar nicht zu uns! Du darfst unsere Eltern nicht mehr Mami und Dati nennen! Sie sind ja nicht deine Eltern.« So grausam können Kinder sein. Solche Äußerungen taten mir immer sehr weh, und ich zog mich weinend in eine Ecke zurück.
Einmal hat Tante Heidi solche gehässigen Bemerkungen von ihren Buben aufgeschnappt. Sogleich hat sie sich diese zur Brust genommen: »Ja, schämt ihr euch gar nicht? Wie könnt ihr nur so herzlos zur Fanni sein! Es ist schon schlimm genug, dass sie keinen Vater hat und dass ihre Mutter einfach davongegangen ist. Nun, da ihre Oma auch noch gestorben ist, steht sie mutterseelenallein auf der Welt. Wir sind jetzt ihre Familie. Euer Dati und ich versuchen, ihr die Eltern, so gut es geht, zu ersetzen. Und von euch erwarte ich, dass ihr dabei mithelft, dass sich die arme Fanni bei uns wohlfühlt. In Zukunft will ich also keine gehässigen Bemerkungen mehr gegen das arme Kind hören.«
Diese Gardinenpredigt hatte ich unabsichtlich in meiner »Trauerecke« mitbekommen. Da flossen meine Tränen erst recht. In dem Augenblick wurde ich mir erst richtig der Tatsache bewusst, wie allein ich auf der Welt stand. Ich hatte keinen Vater, meine Mutter hatte mich verlassen und meine Schwester war mir entrissen worden. Nach diesem Gedankengang gewann ich die Überzeugung, ich sei der bedauernswerteste Mensch auf der ganzen Welt.
Doch wenig später holte mich Vroni aus meinem Selbstmitleid heraus. Sie kam mit ihrem »Toni« auf mich zu und brachte den meinen gleich mit: »Komm, wir spielen ›Vater Mutter Kind‹.« Diesen Vorschlag brauchte sie mir nicht zweimal zu machen. Mal war sie der Vater, mal war ich es. Wir gingen mit unseren Puppen nicht nur spazieren, wir zogen sie auch immer wieder um. Aus Wollresten hatten wir ihnen einiges an Kleidungsstücken gehäkelt und gestrickt. Mami hatte uns nämlich vor einiger Zeit Häkeln und Stricken beigebracht.
Die Predigt meiner Tante an ihre Söhne zeigte Wirkung. Von ihnen bekam ich nie wieder ein böses Wort in dieser Richtung zu hören. Obwohl Onkel und Tante sich bemühten, mir Vater und Mutter zu ersetzen, und obwohl wir wie Geschwister aufgewachsen sind, wurden wir nicht gleichbehandelt. Das ist mir damals aber nicht so bewusst gewesen. Erst als ich im Erwachsenenalter zurückdachte, erkannte ich, dass ich eigentlich die Aschenputtel-Rolle in der Familie gespielt habe. Ich wurde immer mehr eingespannt als die anderen. Vor allem blieb alles, was die anderen nicht tun mochten, an mir hängen. So musste ich bereits im Alter von zehn Jahren melken lernen, während Vroni, obwohl sie ein Jahr älter war als ich, noch nicht dazu angehalten wurde. Auch musste ich schon früh bei den Hühnern ausmisten, was sehr unangenehm war. Immer wenn eine Arbeit anstand, die keiner machen wollte, dann hieß es: »Das kann die Fanni machen.«
Auch nach dem Tod von Oma erschien meine Mutter auf dem Hof, allerdings wesentlich seltener als zuvor. Sie kam, um ihre Schwester zu besuchen, vielleicht auch um mich zu sehen. Doch jedes Mal ergriff ich die Flucht. Sie ist von mir nie als Mutter anerkannt worden. Ich konnte es ihr nie vergessen, dass sie mich als Vierjährige im Stich gelassen hatte. Nach dem Tod meiner Großmutter hätte sie einiges wieder gutmachen können, indem sie mich zu sich genommen hätte. Zugegeben, damals war ich heilfroh, dass sie das nicht getan hat. Sie hätte mich aus meiner gewohnten Umgebung und aus meinem »Geschwisterkreis« herausgerissen. Bei ihr waren es aber mit Sicherheit nicht diese Überlegungen, die sie geleitet hatten. Meiner Überzeugung nach wäre ich ihr nur im Weg gewesen. Egoistisch hatte sie nur ihr eigenes Wohlergehen im Auge gehabt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was aus ihren Kindern werde.
Der Januar und der Februar waren für uns Kinder wunderbare Monate. Dann ging’s zum Schlittenfahren. Das Gelände oberhalb unseres Hauses war dazu ideal. Nicht nur wir vom Mahrend-Hof tummelten uns dort, auch Kinder aus der Nachbarschaft kamen mit ihren Schlitten herüber, sodass immer eine Mordsgaudi war. Wir vier Kinder hatten zusammen nur zwei Schlitten, und bei anderen Familien sah es ähnlich aus. Also saßen immer zwei Kinder auf einem Schlitten. Meist rodelte ich mit Vroni ganz brav den Berg hinab, wobei sie hinter mir saß und lenkte. Weil bei meinen Cousins häufig Streit entbrannte, wer von beiden lenken dürfe, machten sie uns einen großherzigen Vorschlag: Vroni durfte mit Gregor fahren und ich mit Karl. Da ging es schon wesentlich rasanter zu als bei uns Dirndln. Von Jahr zu Jahr kamen die Buben auf verrücktere Ideen. Meine Cousins, wie auch die Nachbarsbuben, wollten gerne bäuchlings fahren, wodurch aber der ganze Schlitten belegt war. Sie hätten uns den Schlitten abgenommen, und wir Mädchen hätten in dieser Zeit dumm herumgestanden. Das akzeptierten wir aber nicht. Also erlaubten sie uns großzügig, uns auf ihre Rücken zu setzen. Das war ihnen aber noch nicht verrückt genug. Sie kamen auf die Idee, die beiden Schlitten aneinanderzuhängen. Bei der rasanten Talfahrt schlingerte der hintere Schlitten, auf dem wir Mädchen saßen, ganz schön hin und her. Das störte uns aber nicht, im Gegenteil, wir quietschten vor Vergnügen.
Jedes Jahr kam man zusätzlich auf noch ausgefallenere Ideen. Man hängte drei Schlitten aneinander, im Jahr darauf vier, und als ich zehn Jahre zählte, waren es gar fünf. Mit Vroni kam ich auf dem vorletzten Schlitten zu sitzen. Dann ging die Post ab, aber wie! Dem Hansi, unserem dreizehnjährigen »Steuermann«, der auf dem ersten Schlitten saß, genügte es nicht, einfach nur geradeaus ins Tal zu lenken. Unter der Fahrt wurde er immer mutiger und baute immer gewagtere Kurven ein. Dadurch schleuderten besonders die beiden letzten Schlitten hin und her. Plötzlich kippten sie um, ein Schrei und wir landeten im Schnee. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, aber die vorderen Schlitten sausten weiter und rissen die leeren Schlitten mit sich. Dabei erwischte mich der letzte Schlitten heftig an der Nase. Die kleine Platzwunde, die ein bisschen blutete, tupfte ich mit meinem Taschentuch ab. Nach dem ersten Schreck aber tat mir die Nase so weh, dass mir an diesem Tag die Lust am Rodeln vergangen war.
Der Mami erzählte ich nichts von meinem kleinen Unfall, ich befürchtete, sonst ließe sie mich nicht mehr mit zum Schneeberg. Vor allem aber war meine Sorge, die Buben würden mich für eine Tratschtante halten und mich nicht mehr mitnehmen. Heidi fiel zwar die kleine Macke an meiner Nase auf, doch ich erklärte ihr: »Das ist nichts Schlimmes. Ich habe mich am Küchenschrank gestoßen.«
Читать дальше