Das mit der Eierlieferung klappte prima. Zu den zwei Dutzend Eiern legte die Oma meist noch vier oder fünf kleine Eier als Dreingabe. Darüber freute sich die Wirtin und schenkte mir manchmal ein Fünferl. Dieses Geld wanderte in meine Spardose.
Ende Oktober hatte es zwei Tage lang geregnet, sodass sich auf der Straße Pfützen gebildet hatten. Auch in unserem Hof gab es eine große Pfütze. In der Nacht vom Samstag auf Sonntag kam überraschend ein Kälteeinbruch, weshalb sich auf allen Pfützen eine feste Eisschicht bildete. Nun hatten wir unser Sonntagsvergnügen. Mit Begeisterung und Schwung schlitterten die Buben auf der Eisfläche. Das beeindruckte uns Mädchen derart, dass wir es ihnen gleichtun wollten. Anfangs landeten wir mehrmals unsanft auf unseren Sitzflächen. Doch bald hatten wir den Dreh raus.
Am Montagmorgen sollte ich der Wirtin wieder Eier bringen. Da entdeckte ich auf einem ebenen Wegstück eine ansehnliche Pfütze, die mit Eis bedeckt war. Das war zu verlockend. Also nahm ich, mit dem Ranzen auf dem Rücken und dem Eierkorb in der Hand, Anlauf und schlitterte los. Entweder war mein Anlauf zu stark gewesen oder mit dem Korb in der Hand konnte ich nicht richtig balancieren, jedenfalls landete ich plötzlich auf meinem Allerwertesten. Schnell rappelte ich mich hoch und untersuchte den Inhalt meines Korbes. O weh, fünf Eier waren zu Bruch gegangen! Sie färbten nicht nur die untere Lage der Zeitung gelb, sondern auch die anderen Eier, die heil geblieben waren. So konnte ich den Korb keinesfalls abliefern. Doch ich wusste mir zu helfen. Auf meinem Weg führte ein paar hundert Meter weiter unten eine Brücke über einen Bach. Neben dieser Brücke gab es eine seichte Stelle, an der man ohne Gefahr ans Wasser konnte. Daneben breitete ich meine Jacke auf dem Boden aus, hob die Deckzeitung weg und gab sie beiseite. Dann legte ich vorsichtig die Eier der obersten Lage Stück für Stück auf meine Jacke. Ebenso verfuhr ich mit der zweiten Lage Eier. Die fünf kaputten Eier, die sich zuunterst im Korb befanden, sortierte ich aus und ließ sie als Schiffchen im Bach davonschwimmen. Die heilen Eier der untersten Schicht wusch ich sorgfältig ab und trocknete sie mit meinem Tafellappen. Die gelb gefärbte Zeitungslage knüllte ich zusammen und ließ sie ebenfalls im Bach schwimmen. Dann nahm ich von den sauberen Zeitungen jeweils die Hälfte, legte sie auf den Boden des Korbes und schichtete abwechselnd Eier und Zeitungspapier darauf. Da mir die Oma diesmal fünf kleine Zusatzeier mitgegeben hatte, die obenauf gelegen hatten und ganz geblieben waren, mischte ich sie unter die normalgroßen Eier. Mit der verdünnten oberen Zeitung deckte ich das Ganze ab und setzte meinen Weg frohgemut fort, mit dem guten Gefühl, der Wirtin werde nichts auffallen. Am Eingang zum Gasthaus drückte ich ihr – wie immer – den Korb in die Hand. »Heute bist aber spät dran«, stellte sie fest. »Ja, ja.« Schon rannte ich davon, damit ich noch pünktlich zur Schule kam. Nach dem Unterricht ging ich wieder an dem Gasthaus vorbei, um meinen leeren Korb abzuholen, der normalerweise auf der Hausbank stand und in dem das Geld abgezählt lag. Zu meiner Überraschung erwartete mich die Wirtin diesmal mit dem Korb in der Hand an der Haustür: »Fanni, sag deiner Oma einen schönen Gruß, das nächste Mal soll sie mir lauter große ordentliche Eier liefern und nicht so kleine ›Vogeleier‹ untermischen.«
»Ich werd’s ausrichten«, versicherte ich, schnappte meinen Korb und weg war ich. Diesmal gab es für mich keine Belohnung. Ehrlich gesagt, die hatte ich auch nicht verdient. Den Gruß an die Oma richtete ich wohlweislich nicht aus. Eines hatte ich bei der ganzen Geschichte gelernt: Man schlittert nicht mit einem Korb voll roher Eier.
In Zukunft lieferte ich wirklich nur einwandfreie Ware ab und zusätzlich vier oder fünf kleine Eier. Dann gab es für mich auch hin und wieder Trinkgeld.
Einige Wochen nach meinem siebten Geburtstag tauchte meine Mutter mal wieder auf. Sie sah sehr verändert aus. In meiner Erinnerung war sie eine schlanke Person gewesen, jetzt aber schob sie einen dicken Bauch vor sich her und kam schwer schnaufend den Berg herauf. Ehe sie mich entdecken konnte, versteckte ich mich unter der Treppe, die in den ersten Stock führte. Weil es ein warmer Tag war, stand die Küchentür offen. Daher bekam ich das Gespräch zwischen ihr und meiner Großmutter mit: »Grüß dich, Bärbel, sag bloß, du bist in anderen Umständen!«
Unter »anderen Umständen« konnte ich mir nichts vorstellen. An das, was meine Mutter geantwortet hat, erinnere ich mich nicht mehr. Was die Oma aber darauf erwidert hat, habe ich umso besser im Gedächtnis: »Bärbel, du musst nicht meinen, dass ich dir noch ein Kind aufziehe. Es muss mal Schluss sein. Indem ich die Fanni und die Anni aufgezogen habe, habe ich wirklich genug für dich getan.«
»Ja, aber die Anni ist doch schon über ein Jahr fort, und die Fanni ist alt genug, dass sie bei meinem neuen Kind die Kindsmagd spielen könnte. Dann ist die Belastung für dich doch nicht so groß.«
»Das stellst du dir so einfach vor. Die Fanni ist den ganzen Vormittag in der Schule, da müsste ich mich allein um dein Hascherl kümmern. Noch mal ein Kleines aufzuziehen, das pack ich nicht mehr, dazu bin ich zu alt.«
»Aber geh, Mutter, mit deinen 63 Jahren bist du doch noch nicht alt! Da kannst du leicht noch mal ein Kind aufziehen.«
»Bärbel, es sind nicht allein die Jahre, die zählen. Mein Herz macht nicht mehr mit. Außerdem geht es deinem Vater sehr schlecht. Ihn zu pflegen kostet mich viel Zeit und Kraft. Manchmal denke ich: Wer von uns beiden wird wohl als erster abberufen?«
»Ach, Mutter, so schlimm wird’s nicht sein.«
»Um uns beide steht es schlimmer, als du denkst. Glaub mir, wenn ich gesundheitlich besser beieinander wäre, würde ich dein Kind nehmen.«
Das schien meine Mutter nicht so recht zu glauben. Patzig antwortete sie: »Also gut, wenn du nicht willst, ich werde schon jemanden finden, der mir das Kind aufzieht.«
Mit beleidigter Miene rauschte sie ab.
Von diesem Augenblick an machte ich mir Sorgen um meine Großeltern, vor allem um die Oma. Was sollte aus mir werden, wenn sie nicht mehr da wäre? Den Großvater würde ich weniger vermissen, der hatte sich ohnehin nicht viel mit mir beschäftigt. In letzter Zeit blieb er immer öfter den ganzen Tag im Bett liegen, und wenn er mal aufstand, saß er nur still im Sessel und nahm am Leben nicht mehr teil. Der Oma sagte ich aber nichts von meiner Besorgnis. Sie brauchte nicht zu wissen, dass ich gelauscht hatte.
Es waren noch keine vier Wochen vergangen, da sahen wir Kinder, als wir von der Schule kamen, einen schwarzen Wagen auf unserem Hof, vor den ein schwarzes Pferd gespannt war. Zwei schwarzgekleidete Männer trugen gerade einen Sarg aus dem Haus und schoben ihn von hinten auf den Wagen. Oma stand neben der Haustür und tupfte sich mit ihrem Taschentuch die Augen. Mir wurde ganz bang ums Herz, weil mir bewusst wurde, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Auch meine Cousine und meine Cousins blieben betroffen stehen und schauten den Männern zu. Ängstlich klammerte ich mich an die Großmutter: »Warum sind die schwarzen Männer da? Warum tragen sie einen Sarg?«
Sie umarmte alle vier Enkel gleichzeitig und flüsterte uns zu: »Euer Opa liegt darin. Heute Nacht ist er für immer von uns gegangen. Für ihn war es eine Erlösung.«
Alles andere weiß ich nicht mehr, wann und wo die Beerdigung war und wo die anschließende Zehrung. Nur dunkel erinnere ich mich daran, dass meine Mutter auch anwesend war und dass ich mich bemühte, mich von ihr fernzuhalten.
Von dem Tag an, als die schwarzen Männer Opas Sarg auf den Totenwagen geladen hatten, war ich noch mehr in Sorge um meine Großmutter. Im Stall konnte sie schon lange nichts mehr tun, diese Arbeiten übernahmen Tante Heidi und ihr Mann. Auch wir Kinder wurden eingespannt. Die Buben mussten nun täglich vom Heuboden Futter herunterwerfen, sie mussten Holz hereintragen und für alle die Schuhe putzen. Die Schuhe waren oft sehr schmutzig, es gab ja noch keine geteerten Straßen, und wenn es regnete, waren die Schuhe voller Matsch.
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