Dem Sohn lag schon auf der Zunge: Das ist doch nicht meine Schuld, dass du dich so wenig um mich gekümmert hast. Aber er schluckte diese Bemerkung hinunter, weil er den Vater nicht zusätzlich verärgern wollte.
»Außerdem«, fügte der Vater nach einigem Nachdenken hinzu, »müssen wir erst Erkundigungen über das Mädchen einziehen, damit wir wissen, wen du in unsere Familie einzuführen gedenkst.«
Dem heiratsfreudigen Paar wurde eine Menge Geduld abverlangt. Der »große Familienrat« tagte erst vierzehn Tage später. Diesem gehörten außer dem Vater und den Großeltern auch Tante Bärbel und Kaspars Bruder Hans an. Kaspar wurde in dem Raum nur als stummer »Angeklagter« geduldet, als über sein Schicksal entschieden wurde. Schon nach wenigen Sätzen erkannte er, dass es seinen lieben Angehörigen weniger darum ging, ob er schon ehemündig sei, als vielmehr darum, welche Qualitäten die Braut mitbringe. Sie sei nichts und sie habe nichts, war der Tenor der ganzen »Verhandlung«. Schließlich wurde das dem Bräutigam zu bunt. Er sah sich genötigt, etwas zur Ehrenrettung seiner Liebsten einzuwerfen: »Dass sie nichts hat, stimmt. Dass sie aber nichts ist, stimmt nicht ganz. Immerhin hat sie die Mittlere Reife, was auf eine gewisse Intelligenz schließen lässt. Nach ihrer Schulzeit hat sie sogar eine Lehre auf dem Landratsamt in Starnberg begonnen. Anderthalb Jahre später aber starb ihre Mutter, und sie musste ihre Ausbildung abbrechen, um ihrem Vater den Haushalt zu führen. Dadurch hat sie keine abgeschlossene Berufsausbildung und konnte auch kein Geld verdienen, um Ersparnisse zu machen. Meiner Meinung nach ist sie ein sehr wertvoller Mensch, und es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie sich in selbstloser Weise um den Vater und die minderjährigen Geschwister gekümmert hat. Ich liebe sie also nicht wegen einer guten Position oder irgendwelcher materiellen Güter, sondern wegen ihrer inneren Werte. Sie ist ein liebenswürdiger warmherziger Mensch.«
Nun fiel die Tante über ihn her: »Was verstehst du schon von Liebe? In deinem Alter ist das ein Strohfeuer, das bald erlischt. Außerdem ist sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren viel zu alt für dich.«
»Vielleicht liebe ich sie gerade deshalb. Weil sie älter ist als ich, gibt sie mir die Liebe und Wärme, die ich seit dem Tod meiner Mutter vermisst habe.«
»Gewiss, im Moment mag die ältere Frau für dich interessant sein«, räumte der Vater ein. »Aber lass erst mal ein paar Jahre ins Land gehen, dann wirst du dich nach einer jüngeren und attraktiveren umschauen, weil dir deine Frau zu alt und zu hausbacken ist.«
Da dem Sohn darauf keine passende Antwort einfiel, erklärte er, er wolle Rosina auch deshalb heiraten, weil er sich für sie und das Kind, das sie von ihm erwarte, verantwortlich fühle.
»Das ist doch kein Grund, zu heiraten, noch dazu in so jugendlichem Alter, wo man die Konsequenzen noch gar nicht abwägen kann«, tat der Großvater seine Lebensweisheit kund.
»Ja«, pflichtete ihm sein Schwiegersohn bei. »Versaue dir deine Zukunft nicht durch einen so übereilten Schritt. Wenn du dich auf dem Standesamt als Vater dieses Kindes eintragen lässt und pünktlich deine Alimente zahlst, zeigst du genügend Verantwortungsbewusstsein.«
»Und du bleibst ein freier Mann«, setzte sein Bruder noch eins drauf. »Bei deiner Intelligenz wäre es schade, wenn du als Sattler versauerst. Schlimm genug, dass du für dieses Weibsstück die Schule geschmissen hast. Aber es ist noch nicht zu spät. Über den zweiten Bildungsweg kannst du dir immer noch eine Zukunft aufbauen. Du kannst dein Abitur nachmachen und ein Studium aufnehmen.«
Obwohl ihn die Formulierung »Weibsstück« innerlich in Rage versetzte, erklärte der werdende Vater in ruhigem Ton, er fände es »gschert« (unehrenhaft), seine Freundin mit dem Kind sitzen zu lassen. Abgesehen davon wolle er mit ihr zusammenleben und sein Kind aufwachsen sehen.
Nun brachte die Großmutter noch einen neuen Aspekt ein: »Und wovon wollt ihr leben, da sie nichts hat und du nichts hast?«
»Inzwischen bin ich Geselle und habe eine feste Anstellung. Das, was ich dort verdiene, reicht für meine kleine Familie, zumal wir kostenlos im Haus von Rosinas Vater wohnen können. Diese Familie ist nicht so engstirnig wie ihr.«
So kühne Worte wagte er nur, weil er nichts mehr zu verlieren hatte. Dann ergänzte er noch: »In wenigen Jahren lege ich die Meisterprüfung ab, wodurch meine Einkünfte entsprechend steigen werden.«
Es half alles nichts. Da sein alter Herr ihm die benötigte Unterschrift verweigerte, blieb Kaspar nichts anderes übrig, als mit der Heirat zu warten, bis er einundzwanzig war.
Er blieb weiterhin bei der Tante wohnen und ging treu und brav seiner Arbeit nach.
Am 19. Februar des folgenden Jahres erblickte ich in Großvaters Haus das Licht der Welt unter Mithilfe einer tüchtigen Hebamme. Kaspar, mein Vater, freute sich riesig und überreichte meiner Mutter einen Strauß roter Rosen. Um diese Jahreszeit müssen die einen Haufen Geld gekostet haben.
Exakt neun Monate später wurde mein Vater einundzwanzig. Er nahm sich zwei Stunden frei, marschierte mit meiner Mutter siegesbewusst zum Standesamt und legte dem Beamten seinen Personalausweis vor.
»Was soll ich damit?«, fragte dieser irritiert. Mein Vater erklärte: »Wie Sie sehen, bin ich jetzt volljährig. Also steht einer Heirat nichts mehr im Wege.«
»Im Prinzip nicht. Sie und die Braut müssen mir aber noch Ihre Familienbücher vorlegen.«
Der Bräutigam schluckte: »Und wo nehmen wir die her?«
»Die müssten im Besitz Ihrer beider Eltern sein.«
Bei Rosina war das kein Problem, aber Kaspars Vater wollte das bewusste Buch nicht herausrücken. »Bub, sei vernünftig«, redete er ihm zu. »Ich meine es mit dir doch nur gut. Ich will verhindern, dass du in dein Unglück rennst.«
Alles Bitten, Betteln und Flehen half nichts. Der Vater blieb stur. Also wanderte Kaspar erneut zum Standesamt, um sich zu erkundigen, ob es denn keine andere Möglichkeit gebe, da sein Vater das Stammbuch partout nicht herausrücken wolle. Der Beamte empfahl ihm, sich von der Gemeinde, in der er geboren worden war, eine Geburtsurkunde geben zu lassen.
Bis er diese bekam, verging wieder einige Zeit. Mittlerweile war es kurz vor Weihnachten, und in der Polsterei gab es einiges zu tun. Viele Leute wollten bis zum Fest noch ihre durchgesessenen Sessel und Sofas aufgepolstert haben.
Am 3. Januar 1953 kamen meine Eltern endlich dazu, sich auf dem Standesamt trauen zu lassen. Anschließend erfolgte die kirchliche Trauung in ganz kleinem Rahmen. Mein Opa und der Chef meines Vaters fungierten in beiden Fällen als Trauzeuge. Noch am selben Tag zog mein Vater in Opas Haus ein. Dieser stellte dem jungen Paar die schönste und größte Kammer zur Verfügung, die er eigens mit neuen Schlafzimmermöbeln eingerichtet hatte. Außerdem gab es noch genug Platz für das Kinderbett.
Mama genoss es, endlich verheiratet zu sein. Als Ehefrau brauchte sie nicht mehr die hämischen Blicke der Nachbarn zu fürchten, wenn sie sich mit ihrem Kind, das den Makel »unehelich« getragen hatte, auf der Straße blicken ließ. Außerdem war sie glücklich, endlich mit dem Mann zusammenleben zu dürfen, den sie liebte.
Da meine Eltern in aller Stille und Heimlichkeit geheiratet hatten, war mein Vater sehr verwundert, als er einige Tage nach der Hochzeit von seinem Vater einen Brief erhielt, der ihn sehr erschütterte.
N.-Dorf, den 5. Januar 1953
Da Du Dich erdreistet hast, ohne meine Erlaubnis und trotz aller Warnungen vonseiten Deiner Verwandten, die es alle gut mit Dir meinten, eine Frau zu ehelichen, die nicht in unsere Familie passt, verstoßen wir Dich hiermit. Wir wollen Dich nie wieder bei uns sehen.
Es folgten die Unterschriften seines Vaters, seiner Großeltern, seiner Tante Bärbel und seines Bruders.
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