„Da ich ja nun nicht mehr direkt mit Ihnen zusammenarbeiten kann, habe ich den Chefdramaturgen gebeten, dass sich das Theater und besonders er sich direkt um Sie kümmert. Als Ihr zukünftiger Betreuer wird er ganz sicher in den ‚Arbeitskreis Dramatik‘ kooptiert. Ich bin gespannt, was Sie über das Stück ‚Der Betrug‘ denken. Das Stück wurde von mir mit entwickelt und war wohl mit ein Grund, weshalb ich als Oberspielleiter nach Cottbus berufen wurde.“
Wolfgang staunte nicht schlecht, als er sich das Stück ansah. Schon nach den ersten Szenen merkte er, dass er einem windigen Theatermann auf den Leim gegangen war, dessen Ratschläge er genau befolgt hatte.
Obwohl es in dem Stück „Der Betrug“ um Normenschaukelei und um eine ungerechte Prämienvergabe ging, bestand die Brigade, die Wolfgang auf der Bühne sah, aus Typen wie Massig, Böhlke und Simmel, und es gab auch einen alten Mann, der viel Verständnis für den ungestümen, jungen Helden aufbrachte und ihm während eines ausgiebigen Fußbads, das er nahm, die Welt und das Leben erklärte. Dass dieser alte Mann Böstel und nicht Linke hieß, war nur ein schwacher Trost für Wolfgang.
Und als die Brigade den jugendlichen Empörer, der lautstark für die Durchsetzung der sozialistischen Arbeitsmoral eingetreten war, zum Studium delegierte, trennte er sich von seiner Freundin, einer Kellnerin. Die Ähnlichkeiten zwischen André und Irene in Wolfgangs Stück und dem Bernd und der Helga in „Der Betrug“ waren unverkennbar. Wolfgangs Stück gab es schon, und Landowsky, von dem Wolfgang tief enttäuscht war, hatte ihn als Ideengeber benutzt.
Als die Taxe auf der nächtlichen Chaussee auf Oberneusitz zufuhr, dachte Wolfgang: Vielleicht ist es besser, dass ich Lehrer bin.
Zu Hause angekommen, warf er sich auf die Doppelbett-Couch und weinte und er war froh, dass er alleine war und Heidi nicht mit ansehen musste, was für eine Heulsuse er war.
Dennoch schwor er sich in jener Nacht, seine Theatererfahrungen, die er zum Stückeschreiben brauchte, auf eigene Faust zu sammeln, und insgeheim beschloss er, Dramaturg zu werden.
Nach der Geburt ihres Sohnes, der mit vierzehntätiger Verspätung Mitte Juli in Birkenhall zur Welt gekommen war, hatte sich die Lebenssituation für Wolfgang und Heidi grundlegend verändert.
Heidi war zu Hause, wusch Windeln und bügelte Baby-Sachen. Nur durch das Radio, das Musik und Nachrichten brachte, war sie mit der Welt verbunden. Aber wenn Reklame-Sprüche West („Was eine ideale Hausfrau unbedingt braucht“) oder Kommentare Ost über „Die Frau im Sozialismus“ kamen, machte sie sofort das Radio aus. Idiotische Werbung und plumpe Agitation ertrug sie nicht.
Henry, der, im Stubenwagen sitzend, auf einer Gummipuppe kaute, sah ihr zu, wie sie mit dem Staubsauger über die Auslegeware fuhr, und beim Entstauben der Bücher im Gelben Salon stieß Heidi auf alte Hefter aus ihrer Studienzeit und Brechts „Lied von der Kapitulation“. Es war bitter, aber sie musste lachen, wenn sie daran dachte, dass sie ihre Staatsexamensarbeit über das Weltbild Hölderlins und die tatenarmen, gedankenschweren Deutschen geschrieben hatte.
Warum habe ich eigentlich studiert, fragte sie sich, wenn ich in diesem Dorf rumhänge und nur sechs Stunden Englisch in der Woche geben kann? Wehmütig griff sie nach den Briefen mit den gutgemeinten Ratschlägen, die ihre Mutter ihr gab. Sie probierte die vorgeschlagenen Kochrezepte aus und achtete peinlichst genau darauf, dass das Mittagessen pünktlich auf dem Tisch stand, wenn Wolfgang aus der Schule kam.
Wenn Henry schrie, sah sie besorgt nach ihm. Sie griff nach den Windeln und weichte sie im Windeltopf ein. Nachdem sie Henry frisch gewickelt hatte, gab sie ihm die Flasche.
Als die ersten Herbststürme kamen, Regen gegen die Scheiben klatschte, wurde Heidi von einem gewaltigen Stimmungstief heimgesucht. Ihr missfiel alles, und Wolfgang gelang es nicht, sie zu trösten. Denn Heidi fühlte sich ausgeschlossen vom Leben in der Schule, vom Leben im Dorf, von der Welt, und sie sah keine Perspektive für sich.
Sechs Stunden Unterricht in der Woche, sonst hörte und sah Heidi nichts von der Welt, und das ging ihr auf die Nerven. „Zuerst genießt du die Ruhe, aber dann bringt sie dich um“, sagte sie. „Zuerst ist man froh, dass man eine Wohnung hat, aber dann erkennt man, was das für eine Wohnung ist, und man weiß, warum man sie so leicht bekommen hat.“
Wolfgangs Versuch, die Widrigkeiten des Alltags herunterzuspielen, schlugen fehl. Heidi hörte nicht auf, die untragbaren Zustände zu beklagen. „Wenn du denkst, jetzt könntest du den Kleinen baden, ist plötzlich das Wasser weg, und wenn du denkst, jetzt könntest du einkaufen gehen, hat der Konsum, die einzige Verkaufsstelle im Dorf, garantiert geschlossen, und da merkst du, wohin es dich eigentlich verschlagen hat“, sagte sie. „Und wenn ich daran denke, dass es in Oberneusitz keine Kinderkrippe und keinen Kindergarten gibt und alles so weitergehen soll wie jetzt, könnte ich mir den Strick nehmen.“
Sechs Jahre lang nur auf den Haushalt und das Kind festgelegt zu sein und im Höchstfall sechs Stunden Unterricht in der Woche geben zu können, hielt Heidi für unzumutbar, und auch für Wolfgang wurde die schulische Situation in diesem zweiten Jahr Oberneusitz immer prekärer.
Als der Direktor einen Ersatz für Heidi gefunden hatte und es dadurch plötzlich zu einem Lehrerüberhang im Fach Deutsch kam, erwog Sandruschek ernsthaft, aus Wolfgang einen Hauptsportlehrer zu machen. Dass Wolfgang andere Ambitionen hatte, schien den Direktor nicht zu interessieren. Gemeinsam mit dem Kreisturnrat, der extra aus Erfurt angereist war, versuchte Sandruschek vergeblich, Wolfgang auf den gewünschten Kurs zu bringen.
Wolfgang sagte, dass er zwar das Fußballtraining der Schulmannschaft leiten könne, aber sonst sportlich eine Null sei. „Von daher eigne ich mich keinesfalls zum Hauptsportlehrer“, meinte er, und Sandruschek und der Kreisturnrat waren mächtig sauer, weil Wolfgang den bereits vorbereiteten Qualifizierungsvertrag nicht unterschrieb.
„Ich habe Deutsch und Geschichte studiert. Und das habe ich aus gutem Grund getan“, sagte er. „Und da möchte ich schon fachgerecht eingesetzt werden.“
Falls mal ein Lehrer, der Sport gebe, ausfalle, würde er natürlich einspringen, erklärte er noch bereitwillig. Aber das genügte Sandruschek nicht.
Mit so viel Sturheit habe er nicht gerechnet, sagte der Direktor verärgert. Der Kreisturnrat zeigte sich äußerst enttäuscht darüber, dass ein junger Lehrer nicht bereit sei, den Gegebenheiten einer kleinen Landschule Rechnung zu tragen. „Sportunterricht kann jeder junge Lehrer geben, ob er nun ein Ass im Turnen war oder nicht“, meinte er. Das sei nur eine Frage der Einstellung.
„Ich denke, dass das nicht das letzte Gespräch über Ihre Perspektive an dieser Schule gewesen sein wird“, sagte der Kreisturnrat, als er sich von Wolfgang verabschiedete.
Sport statt Stückeschreiben kam für Wolfgang nicht in Frage, und er widersetzte sich vehement Sandruscheks Plan, aus ihm einen Hauptsportlehrer zu machen. Immer häufiger lehnte er sich in den Dienstbesprechungen über Sandruschek und seinen autoritären, selbstherrlichen Leitungsstil auf.
Aber eine Anweisung Sandruscheks hatte Wolfgang strikt zu befolgen: Er musste an jeder Gemeinderatssitzung in Oberneusitz teilnehmen und die Belange der Schule vertreten, was höchst selten nötig war. Auch hatte Wolfgang dem Direktor über jeden Besuch des Gemeinderates kurz zu berichten. Denn Sandruschek wollte unbedingt wissen, wie der Gemeinderat tickte, um für die Schule das Maximale an kommunaler Unterstützung herausholen zu können.
So besuchte Wolfgang auf Geheiß von Sandruschek seit einem Jahr die Gemeinderatssitzungen, und wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte man laut loslachen können. Denn jedes Mal wurde sich fürchterlich über dieselben Dinge gestritten, und jedes Mal, egal, was auf der Tagesordnung stand, meldete sich der Feuerwehrhauptmann Bartsch zu Wort und forderte, was er immer forderte: eine Kleiderkammer für die Freiwillige Feuerwehr das Dorfes.
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