In der Mitte des Dorfes, das still und staubig in der Mittagshitze döste, standen auf dem Dorfplatz, genau gegenüber der Kneipe, zwei große Mähdrescher. Die Traktoristen ließen sich ihre Bockwurst-Brause-Mahlzeit schmecken, und ein Schäfer band seine Hunde an den Holzlatten eines Vorgartenzauns fest. Bevor er die Straße überquerte, blieb er einen Moment stehen und sah Wolfgang und Heidi erstaunt und misstrauisch an. Dann verschwand er in der Kneipentür und die beiden Hunde am Zaun bellten.
Daraufhin traten die zwei Traktoristen ins gleißende Mittagslicht, dessen Helle kaum zu ertragen war, und bestiegen die höllisch heiße Kanzel ihrer Mähdrescher. Höllenlärm verursachend, stürzten sie sich fluchend in die Ernteschlacht. Hupend und grinsend fuhren sie an Heidi und Wolfgang vorbei, die gerade die Schule am Ende des Dorfes erreicht hatten.
Die Schule war ein barackenähnlicher Flachbau. Der Direktor stand auf den Stufen vor der Eingangstür. Er hieß Sandruschek und erwartete sie zum ersten Gespräch.
„Ist etwas passiert?“, fragte er verwundert und etwas unbeholfen, als er Wolfgang und Heidi in ihren schwarzen Trauerklamotten sah. „Meine Großmutter ist gestorben“, sagte Wolfgang. „Heute Vormittag war das Begräbnis.“
„Das tut mir leid“, sagte der Direktor. „Es hat sich ja hoffentlich an ihrem Einsatz nichts geändert“, fügte er etwas verunsichert hinzu.
„Nein“, sagte Wolfgang. „Alles bleibt wie abgesprochen.“
„Dann ist es ja gut“, der Direktor zeigte ihnen die Schule. Er führte sie ins Lehrerzimmer, ins Sprachkabinett, auf das er mächtig stolz war, und in den Biologie-Raum.
Auf dem Lehrertisch lag ein heller Sommerhut, und ein alter Mann etikettierte gerade eine Reihe von Spiritus-Gläsern, in denen Embryos in den verschiedensten Entwicklungsstadien zu sehen waren.
„So sieht menschliches Leben aus“, sagte er schmunzelnd und sah Heidi an, als wolle er feststellen, ob sie schon schwanger sei.
Der Direktor sagte: „Herr Rechn, mein Stellvertreter, 63 Jahre alt, der keine Ferien kennt.“
Der alte Rechn gab Wolfgang und Heidi, vor der er sich sogar etwas verbeugte, die Hand und Sandruschek sagte: „Bruckners. Die neuen Absolventen.“
„Wir sind Nachbarn“, sagte der alte Rechn. „Ich wohne mit meiner Frau in dem alten Lehmgemäuer am Schulplatz. Früher habe ich sogar in der Kirche die Orgel gespielt.“
Nachdem sie den Bio-Raum verlassen hatten, warfen sie einen kurzen Blick ins Geschichtskabinett. „Ihr Heiligtum“, sagte Sandruschek zu Wolfgang, in dem er anscheinend mehr den Geschichts- als den Deutschlehrer sah.
Das Direktorenzimmer, in das er Wolfgang und Heidi bat, war pomphaft eingerichtet: dicke Teppiche, protzige Besuchersessel, ein großer Repräsentativ-Schreibtisch und eine Zweit-Stundentafel, ein Veranstaltungs- und Organisationsplan, der stabsfeldmäßig durchgestellt war. Der Direktor steckte Fähnchen und hängte verschiedenfarbige Metallplättchen an eine große Tafel. Er kam sich wohl wie ein großer Feldherr vor. „Die roten bekommen Sie“, sagte er zu Heidi. „Und Sie kriegen die blauen“, zu Wolfgang. Er redete von unterrichtsarmen Tagen und vom Hort und AG-Stunden und von einem Stundenpolster, das für einen variablen Einsatz sehr wichtig sei.
Sandruschek machte auf Wolfgang einen autoritären Eindruck, und er dachte an seinen Vater, nach dessen Willen alles immer gehen musste. Auch Sandruschek hatte seine festen Vorstellungen vom Leben auf dem Dorfe und vom Unterrichten an einer Landschule, und mit Wolfgang und Heidi glaubte er, seine Pläne an der Schule und im Dorf durchbringen zu können.
Nachdem der Direktor ihnen gesagt hatte, in welchen Klassen sie unterrichten würden, meinte er am Schluss des Gesprächs: „Auch mit Ihrer Wohnung geht alles klar.“
Wenig später trafen sie sich mit dem Bürgermeister, einem großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit klobigen Händen. Er stand vor einem Haus, das schräg gegenüber von der Kirche und der alten Schule lag. Äußerst schroff begrüßte er den Direktor. Aber wesentlich freundlicher verhielt er sich Heidi und Wolfgang gegenüber.
Der Bürgermeister schloss die Haustür auf und der Blick fiel in einen dunklen Flur, der gelb ausgefliest war, und auf eine enge, steile Holztreppe, die nach oben führte.
Oben angekommen, es gab nur ein Stockwerk in diesem Haus, machte der Bürgermeister die Türen zur Toilette, zum Wohnzimmer, zur Schlafstube und der Küche auf. „Das ist die Wohnung“, sagte er. „Einen Dachboden gibt es nicht, und der ehemalige Giftraum unten kann als Abstellraum für die Aschekübel genutzt werden.“
Wolfgang und Heidi besahen sich die Räume genau, die ihr künftiges Zuhause sein sollten. Die Küche war unheimlich lang. Sie wirkte wie ein schmaler Tanzsaal, und Sandruschek sagte zu Heidi, wie er die Küche einrichten würde.
Wolfgang stand am Küchenfenster, und sein Blick glitt über den Garten der Nachbarin bis zur Mühlenrampe und zu Rosas Kneipe. Der Direktor machte Heidi noch immer Vorschläge, wie die Küche am besten abzuteilen wäre. „Durch ein geschicktes Abtrennen könnte hier ein Kinderzimmer gewonnen werden“, er schritt ein Drittel der Küche ab.
Alle Zimmer, außer der Toilette, hatten eine schräge Wand, und die meisten Fenster zeigten zur Dorfstraße. Wolfgang fand, dass das Wohnzimmer wenig einladend aussah: In der leeren Ofenecke lag ein Stück Blech, und wo das Ofenrohr in den Schornstein gegangen war, war die Tapete voller Ruß.
„Für einen neuen Ofen sorgen wir“, sagte der Bürgermeister. „Bei den dünnen Wänden kann es auch mal ganz schön kalt werden.“
„Früher war das Standesamt hier drin“, sagte der Direktor. Und mit Blick auf die geölten, schwarzen Dielen meinte Sandruschek: „Darauf würde ich Linoleum oder Auslegeware legen.“
Die weitere Diskussion über Bodenbelag und Ofengröße überließ Heidi den Männern. Sie stand am Fenster, sah auf die klein gepflasterte Dorfstraße hinunter und auf das Haus gegenüber mit dem violetten Putzanstrich.
Ein Traktor mit einem schweren Anhänger voll Getreide fuhr hupend am Haus vorbei. Das Hupen galt der Nachbarin aus dem Haus von gegenüber. Trotz der Hitze trug sie Gummistiefel, als sie aus dem Hoftor trat und die Dorfstraße hoch bis zum Wiegehäuschen ging, und Heidi musste darüber ein wenig lächeln. Aber ein trauriges Bild gab die Telefonzelle ab, die sich gleich neben dem Wiegehäuschen befand. Die Tür stand offen, die Scheiben waren demoliert, und der Hörer war abgerissen. Die Verbindung zur Welt war gekappt.
„Mehr haben wir nicht zu bieten“, sagte der Bürgermeister und drückte Wolfgang die Wohnungsschlüssel in die Hand.
Am nächsten Tag stiegen Wolfgang und Heidi wieder auf der kaum befahrenen, staubigen Kreuzung aus dem Überlandbus und liefen in der Mittagshitze auf der langen, asphaltierten Chaussee auf Oberneusitz zu.
Dieses Mal hatten sie luftige Sommerklamotten an und jeder von ihnen trug einen großen Rucksack, auf den eine zusammengerollte Luftmatratze geschnallt war. Abwechselnd zogen sie einen hellbraunen Lederkoffer hinter sich her, der auf Rollen lief.
Nachdem sie die Rucksäcke und den Koffer in der langen Küche abgestellt hatten, in der außer einem Küchenherd, einem Schuhregal und einer runden Metallgarderobe nichts stand, machten sie sich an die Arbeit.
In der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft BHG kauften sie sich drei unterschiedliche Besen, eine Kehrschaufel, Reinigungsmittel, zwei Plasteeimer und ein Bündel Scheuerlappen.
Zwei Tage lang schrubbten und wischten sie gründlich die Zimmer und den Korridor. Danach begannen sie mit dem Renovieren der Räume. Zuerst kamen die Toilette, die Schlafstube und die Wohnstube dran, und zum Schluss nahmen sie sich die Küche vor.
Читать дальше