„Jetzt?“
„Jetzt“, sagte Heidi.
Sie stürzten sich nackt in den Schleichersee, bis der ABV mit seinem großen Schäferhund am Strand erschien und das Badevergnügen bei Nacht unterband. Wahrscheinlich hatte ihn jemand, der neidisch auf die ausgelassenen Nacktbader war, informiert. Der Vollmond schien durch die majestätisch großen Bäume. „Kommt raus!“, rief er. „Es ist streng verboten, hier zu baden!“
Wolfgang hatte Angst vor dem Schäferhund und nur zögernd folgte er Heidi, die, im flachen Wasser angekommen, mutig auf das Ufer zuschritt. Der ABV hatte nur Augen für Heidi, Beate und Anne. Zu Wolfgang, Bernd und Jochen sagte er süffisant: „Dann noch viel Spaß.“ Und drohend fügte er hinzu: „Und verhaltet euch ruhig auf dem Heimweg. Sonst gibt’s Ärger!“
Heidi, die sich mit ihrem Unterrock und ihrem Schlüpfer notdürftig abgetrocknet hatte, war völlig nackt unter ihrem dünnen Sommerkleid, als sie durchs nächtliche Jena liefen, und Wolfgang konnte sehen, wie das Kleid auf ihren nassen Hüften klebte.
Als sie Richtung Stadt auf den Paradiesbahnhof zuliefen, sagte Wolfgang: „Ich muss jetzt links weg.“
„Ich auch“, sagte Heidi zur Überraschung aller. „Ich will doch endlich sehen, wo Wolfgang haust.“
Im Dunkeln betraten sie Wolfgangs Kellerwohnung und Heidi sagte:
„Licht brauchen wir nicht zu machen. Der Mond ist hell genug.“
„Aber zur Orientierung ist es vielleicht nicht schlecht, wenn ich mal kurz das Licht anmache“, sagte Wolfgang.
„Orientierung kann nicht schaden“, Heidi klang ziemlich beschwipst.
„Orientierung ist immer gut.“
Als sie „Die Badende“ über Wolfgangs Bett sah, sagte sie: „Da bin ich ja in bester Gesellschaft“ und fing an, sich auszuziehen. Als sie nackt in der Stube stand und ihr Kleid über den Stuhl vorm Schreibtisch legte, musste Wolfgang, der in der Tür zur Küche stand, daran denken, wie er die dicke Frau Fendrich nackt unter der Dusche gesehen hatte.
Er löschte das Licht, zog sich aus und legte sich zu Heidi auf das weiche Federbett. Später sagte Heidi, die entspannt und erschöpft neben ihm lag: „Sind wir nicht geschaffen füreinander?“
„Ich denke schon.“ Wolfgang war mit seinen Gedanken bereits beim ersten gemeinsamen Ostsee-Urlaub. Drei Wochen zusammen in einem Zelt, dachte er. Was Schöneres kann es doch gar nicht geben.
Wenige Tage vor dem gemeinsamen Ostseeurlaub rief Heidi an. Sie könne nicht mit zum Zelten fahren, ihre Mutter liege mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus und müsse operiert werden. „In dieser Zeit muss ich mich um den Haushalt kümmern“, sagte Heidi. Ihr Vater und ihr Großvater müssten von ihr bekocht werden. Wenn Wolfgang sich entschließen könnte, nach Arnsbach zu kommen, wäre sie sehr froh, meinte Heidi.
Einen Tag vor Heidis Geburtstag fuhr Wolfgang mit dem 14-Uhr-30-Zug von Erfurt in Richtung Meiningen und stieg nach einer Stunde Bahnfahrt in Zella-Mehlis um. Dann ging es mit einer Dampflokomotive auf einer einspurigen Nebenstrecke bis zur ersten Haltestelle in Birkenhall, und von da aus musste Wolfgang drei Kilometer zu Fuß zurücklegen, bis er das Stillmarksche Haus am Rande von Arnsbach erreicht hatte.
Nichtsahnend trat er durch das Hoftor, das sperrangelweit offen stand. Kaum hatte er den Hof betreten, rannten ihm drei kläffende Dackel entgegen. Angst durchzuckte ihn. Er stand wie angewurzelt und hielt den Atem an, als einer der Dackel an ihm hochzuspringen versuchte.
In diesem Moment ertönte ein Pfiff. Ein Mann um die vierzig kam um die Hausecke herum. Die Dackel rannten zu ihm „Hunde, die bellen, beißen nicht“, sagte er und lachte, als er sah, wie vorsichtig Wolfgang auf ihn und die Hunde zukam.
August Stillmark hatte ein rundes Gesicht und auffallend große, wasserblaue Augen. Seine Kinnpartie schimmerte rosig und glatt wie bei einem Kind. Seine dunkelblonden Haare lagen streng gescheitelt altmodisch nach hinten gekämmt. Er war mittelgroß und etwas übergewichtig.
„Du also bist Heidis neuer Freund“, sagte er. Anscheinend hatte er keine Ahnung, dass seine Tochter wild entschlossen war, diesen schlaksigen Kerl mit dem blässlichen Vogelgesicht und den schulterlangen Haaren zu heiraten.
Heidi kam aus dem Haus, fiel Wolfgang um den Hals, und schien sich riesig zu freuen, dass er gekommen war. Sie nahm ihm den Campingbeutel ab und sagte: „Komm rein!“
Sie führte ihn in eine kleine Kammer, in der nur ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und ein alter Holzstuhl standen. Es war die frühere Wurstkammer, und Heidi meinte, als sie Wolfgangs missmutigen Blick sah: „Für ein paar Tage geht es schon mal. Und viel wirst du sowieso nicht in diesem Zimmer sein.“
Wenig später rief Heidi durchs Haus: „Opa, wir kommen kurz mal hoch zu dir“. Ihr Großvater saß in einem bequemen Sessel seitlich vorm Fenster. Um sich besser unterhalten zu können, wechselte der alte Mann vom Sessel auf das schmale, kurze Sofa. Am Küchentisch sitzend, hatte er nun Heidi und Wolfgang besser im Blick, die ihm gegenüber auf den alten, weiß gestrichenen Stühlen Platz nahmen.
Louis Stillmark war 80 Jahre alt und sah aus, wie man sich einen Großvater vorstellt, der weißhaarig und weise und immer milde gestimmt seiner geliebten Enkelin Geschichten von früher erzählt.
„Ich kann kaum glauben, dass es, auf den Tag genau, 22 Jahre her sind, dass Karoline und ich deine Mutter, die hoch schwanger war, ins Krankenhaus nach Birkenhall gebracht haben“, sagte er. „Als deine Mutter die ersten Wehen bekam, zogen wir uns in aller Eile an und brachten sie zu Fuß ins Krankenhaus. Denn im Dorf gab es keine Hebamme, nicht mal eine Gemeindeschwester. Und ein Auto war weit und breit nicht verfügbar“, erinnerte er sich. „Wir schlichen also los, hinterm Haus ins Feld, am Waldrand entlang und am Mühlenteich vorbei, wo die Russen ein Zelt stehen hatten. Es war zwar gefährlich. Aber es war der kürzeste Weg, den wir kannten. Unterwegs sprachen wir kaum ein Wort und schafften es in einer guten halben Stunde bis zum Krankenhaus. Mit einer kleinen Tasche gaben wir Lisbeth beim Pförtner ab und eilten, so schnell wir konnten, teils im Dauerlauf, teils schleichender Weise, um nicht aufzufallen, nach Hause. Am nächsten Tag dann wurdest du im Birkenhaller Krankenhaus geboren.“
„Und morgen feiere ich meinen 22. Geburtstag auf der Schneidmühle“, meinte Heidi. Das sei mit Lisa, ihrer Patentante, so abgemacht.
Nach dem Abendbrot sagte Heidi, dass sie sich jetzt ums Mittagessen für morgen kümmern müsse und Wolfgang, der ihr beim Kochen nicht unnütz im Weg herumstehen wollte, wechselte von der Küche in die Wohnstube. Er sah sofort, dass hier ein Musiker und Hundenarr zu Hause sein musste. An der linken Wand, von der Tür aus gesehen, stand ein aufgeklapptes Klavier, und auf dem Wohnzimmerschrank gleich rechts lag, zwischen einem wuchernden Asparagus-Stock und einem Rauhaardackel aus weißglasiertem Porzellan, eine löwenzahngelbe Trompete.
Heidis Vater saß auf dem Sofa. Auf dem Wohnzimmertisch vor ihm türmten sich Ausstellungskataloge und Zuchtbücher. „Setz dich doch“, August Stillmark deutete auf einen Stuhl. „Ich will herausfinden, woher die Junghündin abstammt, die mein Schul- und Dackelfreund Hartfried gekauft hat.“
Der Stammbaum sei entscheidend für die Zucht, sagte August Stillmark zu Wolfgang, der es sich im Polsterstuhl ihm gegenüber bequem gemacht hatte. August Stillmark sprach über das Ausleseprinzip bei Teckel-Welpen und bei Wolfgang, der null Ahnung von Hunden hatte, kam der Gedanke an Herrenrasse und Euthanasie auf. Er fand es ungeheuerlich, dass Welpen mit einem Kehlstrich getötet und Teckel mit Epilepsie ausgemerzt wurden.
Als Wolfgang und August Stillmark wenig später ein Bier miteinander tranken und sich über den Tisch zuprosteten, sagte August Stillmark: „Aus Erfurt also bist du.“
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