August Stillmark hatte immer Lust, wenn es ums Essen ging, und so stand er Augenblicke später vorm Gasherd in der Küche und löffelte aus einem großen Topf das heiße Frikassee. Am genüsslichen Schlürfen hörte man, dass es ihm schmeckte.
Bevor August Stillmark am nächsten Morgen das Haus verließ, über die Wiese hinterm Haus ging und der PGH im Feld zustrebte, legte er ein Briefkuvert mit 50 Mark auf den Küchentisch und blies, im Korridor stehend, „Happy birthday to you“.
Wolfgang, den der frühmorgendliche Auftritt aus dem Schlaf gerissen hatte, hörte, wie Heidi von der Balustrade der oberen Etage herab sagte: „Schönen Dank für das Ständchen.“ August Stillmark rief von unten zurück: „Viel Spaß auf der Schneidmühle.“
Die Toreinfahrt zur Schneidmühle in Silberberg war doppelt so breit wie die vorbeiführende Hauptstraße, und über der gesamten Toreinfahrt prangte ein gewaltiges Firmenschild aus Holz, das wie ein Riesen-Transparent wirkte. In großen, schwarzen Lettern war zu lesen. „Emil Anschütz, Sägewerk & Zimmerei“.
Wie ein großes L lagen die Gebäude der Schneidmühle vor ihnen. Die Firma Anschütz, die einst 21 Leute beschäftigt hatte, war in den Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem Kleinbetrieb geschrumpft und nannte sich jetzt „Metallwaren Emil Anschütz.“
Exzenter lärmten in der kleinen Werkstatt unter der ehemaligen Kutscherwohnung, in der Pfennigabsätze gefertigt und Kofferscharniere gestanzt wurden.
Von der fünfköpfigen Belegschaft arbeiteten drei in der Produktion: Onkel Fritz, Onkel Rolf und Tante Herta. Lisa, Heidis Patentante, war im Kontor beschäftigt und half in der Werkstatt nur mit, wenn Not am Mann war. Oskar, Heidis Großvater, schaute nur ab und an in die Werkstatt. Ansonsten kümmerte er sich nicht um den Metallbetrieb, in dem zwei seiner Töchter und die beiden Schwiegersöhne arbeiteten.
Als Heidi und Wolfgang an der kleinen Werkstatt vorbeigingen, die sich gleich links an einer der Giebelseiten befand, blieb Heidi stehen und sagte: „Falls jemand aus der Verwandtschaft einen Ferienjob oder kurzfristig Arbeit brauchte, war immer ein Exzenter frei.“
Sie standen vor einem niedrigen Fenster. Sie habe oft in den Ferien hier gearbeitet, Heidi zeigte in die kleine, dunkle Werkstatt und versuchte, sich durch lautes Klopfen ans Fenster bemerkbar zu machen. Aber der Lärm in der Werkstatt war so groß, dass niemand davon etwas mitbekam.
Beim flüchtigen Blick durchs Fenster nahm Wolfgang schemenhaft zwei Männer und eine Frau wahr. Der mit der Latzhose, der an der Bohrmaschine stehe, sei Onkel Fritz, und Onkel Rolf sei der mit dem blauen Kittel, der gerade Draht zerschneide, und Tante Herta sitze mit dem Rücken zu ihnen an einem Exzenter, erklärte Heidi. „Aber die lernst du ja alle noch heute Nachmittag kennen. Spätestens heute Abend.“
Tante Lisa, die auf Heidi und Wolfgang gewartet hatte, nahm sie an der Haustür in Empfang. Sie war eine füllige, vollbusige Frau, die eine gewisse Warmherzigkeit ausstrahlte. Ihr Blick jedoch wirkte etwas kalt, was ihren grün-grauen Augen geschuldet war. Sie trug eine weiße, kurzärmlige Sommerbluse, die ziemlich tief ausgeschnitten war, und ihr cremefarbener Rock, der handbreit über ihren dicken Knien endete, spannte etwas über ihrem Unterbauch.
Lisa war 37 Jahre alt, und ihr vierjähriger Sohn, eines von drei Kindern, hing ihr im wahrsten Sinne des Wortes am Rockzipfel. Scheu und verschämt gab er Heidi und Wolfgang die Hand. Dann hüpfte er ausgelassen durch den dunklen Flur vor ihnen her.
Als Wolfgang und Heidi die große Bauernküche betraten, unterbrach Minna Anschütz ihr Hantieren am Herd.
Heidis Großmutter war klein und zierlich. Ihre grauen Haare, die glatt nach hinten gekämmt waren, wurden durch einen Knoten zusammengehalten. Weil es ihr streng konservativ eingestellter Mann so wollte, trug sie auch an diesem heißen Augusttag eine Alltagstracht, zu der ein langer, schwarzer Rock gehörte.
Minna freute sich über Heidis Besuch, drückte sie fest an sich und gratulierte ihr zum Geburtstag. Dann erkundigte sie sich sofort danach, wie es der Großen gehe. Heidis Mutter Lisbeth, die Älteste ihrer Töchter, war für sie die Große, obwohl sie die Kleinste war, und die jüngste Tochter war für sie die Kleine, obwohl sie die Größte war.
Wolfgang setzte sich unbeachtet auf einen Stuhl in der Ecke.
Heidi sagte, dass ihre Mutter vielleicht schon am nächsten Montag aus dem Krankenhaus entlassen würde.
Minna war erleichtert darüber und setzte die Kartoffeln auf. „Und was macht dein Vater so?“
„Fast jedes Wochenende tritt er auf irgendeinem Sommerfest auf“, sagte Heidi. „Heute Morgen hat er für mich ‚Happy birthday‘ gespielt.“
Während des Mittagessens lernte Wolfgang auch Heidis Großvater kennen, der ihm am Nachmittag sein einstiges Imperium zeigte.
„Vor hundert Jahren wurde der Betrieb gegründet, und vor zehn Jahren musste ich die Zimmerei und das Sägewerk aufgeben“, sagte Oskar Anschütz und schob das schwere Holztor des Sägewerkes, das auf rostigen Metallrollen lief, mit einem Ruck in der Mitte auseinander.
Heidis Großvater war groß und kräftig. Er hatte ein rundes Gesicht, tiefbraune Augen und einen grauen Stoppelbart wie Hemingway, und sein kerzengerader Gang ließ vermuten, dass er einst ein guter Turner gewesen war. Zur Feier des Tages trug er eine schwarze Anzughose, ein langärmliges, weißes Hemd und eine schwarze Weste mit einem grau-glänzenden Rückenteil aus Seide.
Seinen Rundgang durch die kühle, schummrige Dunkelheit der Schneidmühle begann er am Gatter, dem Herzstück des Sägewerks, das nur noch ab und an schlug, wenn Oskar Bamberg für gute Freunde oder Nachbarn aus großen, dicken Stämmen Bohlen schnitt.
Einige Meter hinterm Gatter befand sich ein viereckiger Einstieg, der hinunter in den Spänebunker führte. Der Spänebunker war dunkel und gruselig, denn nur von oben fiel Licht ein. Und Wolfgang, der an Höhenangst litt, war beeindruckt, wie Oskar Anschütz mit seinen 69 Jahren die schmale, lange Holzleiter im Zimmermannsgang hinabstieg. Er war unerschrocken, und Angst vor Ratten, die Wolfgang beim Abstieg in das dunkle Loch befiel, schien er nicht zu haben.
Nachdem der Spänebunker inspiziert worden war, folgte Wolfgang Heidis Großvater in einen nach Hobelspänen riechenden, großen Raum, durch dessen Dielenritzen das Grün der Wiese schimmerte und der Bach, der an der Mühle vorbeifloss, deutlich zu hören war. „Auf dieser Maschine“, sagte Oskar Anschütz, „hoble ich noch heute Fußbodenbretter für die Leute – so nebenbei.“ Anfang der dreißiger Jahre sei diese Spezialhobelmaschine das Modernste gewesen, was es auf diesem Gebiet gegeben habe, wusste er zu berichten. Fürs Hobeln der Fußbodenbretter sei nur noch ein Arbeitsgang nötig gewesen. Unter- und Oberseite wurden erstmals gleichzeitig bearbeitet.
Und dass Oskar Anschütz zur gleichen Zeit zwei Francis-Turbinen in Betrieb genommen habe, erfüllte ihn noch immer mit Stolz. Er habe einen Kunstgraben angelegt, um die Wasserkraft besser nutzen zu können, und mit den zwei Turbinen habe er sich unabhängig von der Stromversorgung gemacht, die während des Krieges und in der Nachkriegszeit oft zusammengebrochen sei.
Oskar Anschütz griff nach einem großen Hebel an der Wand und sagte: „Den brauchte ich nur runterziehen, und Strom für die Maschinen, das Licht im Haus und im Stall war da. Wir waren unabhängig von dem, was geschah. Und durch die Landwirtschaft, die wir hatten, konnten wir uns selbst versorgen. So kamen wir über die schlechten Zeiten, ohne Hunger zu leiden.“
Mit jedem Wort, das dem wortkargen Oskar Anschütz über die Lippen kam, mit jedem Schritt, den Wolfgang in eine ihm unbekannte, nach Harz, Sägespänen und Rinde riechende Welt tat, wurde er in die wechselvolle Geschichte der Schneidmühle hineingezogen, die im Jahre 1867 begonnen hatte. Da nämlich hatte der Dielenschneider Christian Anschütz sich mit seiner zweiten Frau Johanna Regina und sechs Kindern in Silberberg niedergelassen und aus einer alten Ölmühle eine konkurrenzfähige Schneidmühle gemacht.
Читать дальше