1 ...8 9 10 12 13 14 ...34 Die Studentenbühnen der westlichen Länder würden sich auf die Darstellung sexuell gehemmter Menschen versteifen und ergingen sich in Schilderungen pathologischer Fälle, zitierte Wolfgang aus dem Bericht einer Hallenser Beobachtungskommission. „Die Studentenbühnen versuchten, den primitiven, erotischen Bedürfnissen des Publikums gerecht zu werden, und die Würzburger Studentenbühne ging sogar so weit, auf der Bühne eine vollkommene Striptease-Show aufzuführen, um sich finanziell zu sanieren, wie die Vertreter nach dem skandalösen Abbruch der Veranstaltung bekannt gaben.“
„Aber das, was sich gegenwärtig als Trend abzeichnet, entspricht nicht unseren Intentionen“, fuhr Wolfgang fort, ohne dass er verriet, wie der Spielplan aussehen sollte, der ihm bereits vorschwebte. Die zornigen jungen Männer, die in England für Aufsehen sorgten, wollte Wolfgang auf die Bühne bringen, und er dachte dabei an John Osbornes „Blick zurück im Zorn“.
Wenn er auch noch nicht wisse, welches Stück als Nächstes aufgeführt werde, so wisse er mit Bestimmtheit, dass Ende des Monats das Programm „Oktoberlyrik“ im Studentenkeller Premiere habe, schloss Wolfgang. „Das zeigt doch, wie irrig es ist, uns nach dem Absetzen des Stücks ‚Der weite Weg‘ antisowjetische Tendenzen unterstellen zu wollen.“
Nach der Rede, die Wolfgang vor der Fachschaft gehalten hatte, machte ihn Wachsmuth mit den zwei Studentinnen bekannt, die ihnen die 30 Seiten Russisch übersetzt hatten. Schon während des Vorstellens verknallte sich Wolfgang in die füllige Slawistin mit den prallen Lippen. Sie hieß Judith.
Wolfgang sagte, dass er sich fürs Übersetzen revanchieren wolle. Er wolle einen ausgeben, sagte er, und Wachsmuth, Wolfgang, Judith und ihre unscheinbarere Freundin wechselten vom Hörsaal 13 in die „Sonne“, das erste Haus am Platz.
Sie machten mächtig einen drauf und ließen sich die grünen und blauen Cocktails schmecken, die Wolfgang spendierte.
Judith sagte, dass sie für Jewtuschenko schwärme, und Wolfgang drehte sich ihr zu. An der Bar der „Sonne“ sitzend, rezitierte er: „Du flüsterst, so blass, schwach, schwer. Und was nachher?“
Gegen Mitternacht brachen sie auf, und Wolfgang brachte Judith nach Hause. Das Mädchenwohnheim lag am Rande der Stadt und beim Abschiednehmen küssten sie sich. Wolfgang schob Judith seine Hand unter den mit Seide gefütterten dicken Wollrock und spürte die weiche Innenfläche ihrer Schenkel. Judith konnte herrlich küssen. Ihr Mund saugte sich fest und ließ ihn nicht wieder los. Es machte ihm nichts aus, dass er die letzte Straßenbahn verpasste und nun einen zweieinhalbstündigen Nachhauseweg vor sich hatte, und er hatte auch keine Angst, an dem langen Bretterzaun vorbei gehen zu müssen, hinter dem in tiefster Dunkelheit eine Russenkaserne lag.
„Oktoberlyrik“ war das Programm überschrieben, das bald darauf im Studentenkeller Premiere hatte. Edda hatte es zusammengestellt. Obwohl der Titel einen hausbackenen Eindruck machte, steckte es voller unterschwelliger Botschaften, die pur nicht hätten ausgesprochen werden können, und es hatte nichts mit politisch-plakativen Gedichten zu tun, wie sich das der FDJ-Hochschulsekretär Hetzel vorgestellt hatte.
Da Edda wusste, dass sowjetische Lyrik die Leute nicht von den Sitzen riss, hatte sie einige provokante Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko ausgewählt, die eine Art Chiffre waren und erlaubten, auszusprechen, was in der DDR unter der Decke schwelte. So wurden Bonzen gegeißelt und Apparatschiks karikiert.
Biene, Wolfgang und Mike, die schon beim Heine-Abend erfolgreich zusammengearbeitet hatten, waren jedenfalls froh, dass es den Russen Jewtuschenko gab. Seine Gedichte erlaubten es ihnen, öffentlich zu lesen, was sie fühlten und dachten, ohne sich selbst ins Schussfeld SED-treuer Assistenten oder Dozenten zu bringen. In einer Zeit des Aufbegehrens und des Zorns gegen den politischen Dogmatismus benutzten sie die Gedichte für ihre eigenen Zwecke, und die Verse Jewtuschenkos waren Wolfgang wie auf den Leib geschrieben.
Wolfgang trug Schlaghosen, hatte die Beatles im Ohr und rebellierte gegen die Väter-Welt. Er versuchte, Jewtuschenkos Draufgängertum an den Tag zu legen, und gefiel sich in der Rolle des zornigen jungen Mannes. Es machte ihm Spaß, die Gedichte Jewtuschenkos wirkungsvoll an den Mann zu bringen, in denen persönlichste Gefühle wie Enttäuschung, Einsamkeit und Depression zum Ausdruck kamen und so verstand es sich von selbst, dass er während des Rezitierens den Blick auf Judith gerichtet hatte, die in der ersten Reihe vor dem kleinen, flachen Bühnenpodest saß. „Es findet stets sich eine Frauenhand, / damit sie kühl und leicht und unverwandt, / aus Mitleid mehr als auf der Liebe Wink, / wie einen Bruder dich zur Ruhe bring“, rezitierte Wolfgang und sah dabei Judith in die großen, braunen Augen.
Mike Mutzke sprach die Verse von Andrei Andrejewitsch Wosnessenski, einem kleinen Russen, der in Amerika mit Allen Ginsburg in einem Stadion aufgetreten war und mit seinen Amerika-Gedichten den Wortführer der Beatgeneration an die Wand gespielt hatte.
Am Ende der Veranstaltung ließ Biene einen Hut herumgehen. Die eine Hälfte der Einnahmen kam in die Kasse der Studentenbühne, die andere Hälfte wurde, wie es Sitte war, versoffen.
Nach Veranstaltungsschluss saßen Wolfgang und Mike noch lange auf den unbequemen, kleinen Holzhockern in einer der Kellernischen und klönten. Ab und an griffen sie nach den großen Bierhumpen, die sie neben sich auf dem flachen Bühnenpodest abgestellt hatten.
„Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Programm einen solchen Zuspruch finden würde“, sagte Wolfgang. Mike meinte: „Nach dem Erfolg heute Abend könnten wir doch mal einen Lyrikabend mit eigenen Gedichten machen.“ Bis März sei Zeit genug, sagte er. Gedichte seien genug da, man müsste sie nur geschickt zusammenstellen.
Wolfgang ließ sich auf Mikes Vorschlag ohne großes Nachdenken ein, denn er merkte, dass Judith gehen wollte.
„Abgemacht“, sagte Mike.
„Abgemacht“, sagte Wolfgang, der es äußerst eilig hatte, Judith zu folgen.
Auf der Straße, sie waren auf dem Weg zur Straßenbahn, sagte Judith: „Du warst großartig.“
„Ich bin immer großartig.“ Wolfgang glaubte, dass er Judith an diesem Abend rumkriegen könnte.
Nachdem er Judith vor der Tür des Mädchenwohnheimes lange genug geküsst, ihr ungeniert unter den Rock gegriffen und sie nach allen Regeln der Kunst befummelt hatte, nahm er an, dass sie ihn mit nach oben in ihr Zimmer nehmen würde. Aber Judith löste sich aus seiner Umarmung und stieß ihn weg. Sie habe einen festen Freund, eröffnete sie ihm. Er sei Ingenieur und älter als sie.
Wolfgang ließ von Judith ab. Wieder einmal hatte er das Gefühl, jämmerlich versagt zu haben.
In der Folgezeit entstanden eine Reihe von Weltschmerzgedichten über unglückliche Lieben, die Wolfgang an jenem Lyrikabend vortrug, zu dem Mike ihn überredet hatte.
Eine Stunde lang trugen Wolfgang und Mike ihre Gedichte im überfüllten Studentenkeller vor, und Wolfgangs Gedichte waren allesamt Liebeserklärungen, zu denen er im wirklichen Leben nicht fähig war. Dass Edda und Judith an diesem Abend nicht in den Studentenkeller gekommen waren, enttäuschte ihn maßlos.
Waren nicht fast alle Gedichte ihnen gewidmet?
„Obwohl dieser Abend ein Erfolg war, werde ich keine Gedichte mehr schreiben“, sagte Wolfgang zu Mike. „Und die Weiber können mir gestohlen bleiben.“
Mike sah ihn entgeistert an. Für ihn, der selbst feinfühlige Verse schrieb, war Wolfgang ein begnadeter Lyriker: „Doch nicht, weil ein FDJnik wie Hetzel meint, in einer Gesellschaft, die alle Grundlagen für die Entfremdung des Menschen überwunden habe, sei kein Platz für die Literatur der Einsamkeit?“
„Es hat mit Hetzel, diesem Blödling, der keine Ahnung von Literatur hat, nichts zu tun“, sagte Wolfgang. „Ich habe einfach das Gefühl, mein großes Ziel, Theaterdichter zu werden, aus den Augen verloren zu haben“ In Zukunft werde er sich nur noch aufs Studium und aufs Stückeschreiben konzentrieren, kündigte er an. „Das Bearbeiten und Inszenieren von Stücken, die uns aufoktroyiert werden, führt zu nichts!“ Er habe sich entschlossen, selbst ein Stück zu schreiben. Im vierten Studienjahr komme man nicht mehr zum Theaterspielen, deshalb sei das dritte Studienjahr am geeignetsten, einen solchen Plan umzusetzen. Mit der Uraufführung des Stücks wolle er sich einen würdigen Abgang aus Jena verschaffen und sich als Dramatiker einen Namen machen.
Читать дальше