Es handelte sich um ein männliches Tier, das war gut. Es hatte somit kein Junges zu verteidigen. Und offensichtlich hatte es auch erst vor Kurzem eine Beute gerissen. Das war noch besser. Es war also nicht der Hunger, der es zu Hralfor trieb. Wie er vermutet hatte, war es der Blutgeruch, der den Bersari auf ihn aufmerksam gemacht hatte.
Das Tier näherte sich ihm bis auf wenige Meter und richtete sich hoch vor ihm auf. Es schien unschlüssig, was es von diesem seltsamen Wesen halten sollte, das völlig reglos vor ihm stand. Da von Hralfor keine Gefahr ausging, griff der Bersari auch nicht sofort an.
Hralfor schickte beruhigende Wellen in den Geist des Tieres. Kurz stutzte er, als er für einen kleinen Augenblick Hannahs blasses Gesicht vor sich zu sehen glaubte. Und sofort hörte er wieder die sanften, beruhigenden Melodien, die sie für ihn gespielt hatte. Sie verbanden sich mit seinen eigenen Gedanken und flossen weich in den Geist des Bersaris.
Das Tier begann daraufhin, verwirrt zu grollen. Es schwankte unschlüssig auf seinen Hinterbeinen und fiel schließlich wieder zurück auf alle acht Beine. Dann schnüffelte es noch einmal in Hralfors Richtung und drehte endlich zögernd um. Ganz langsam verschwand es wieder in der Dunkelheit, wo sein weißes Fell mit der endlosen Schneedecke verschmolz und nicht mehr auszumachen war.
Erst jetzt wagte Hralfor einen tiefen Atemzug. Er sandte seinen inbrünstigen Dank an seinen Freund, der ihn die geistige Verständigung mit anderen Lebewesen gelehrt, und an Hannah, deren Musik ihm die nötige Ruhe geschenkt hatte. Dann machte er sich wieder auf den Weg zur Quelle allen Unheils.
Nachdem Hralfor das Revier des Bersaris hinter sich gelassen hatte, fand er auch wieder Spuren von Verbannten.
Beunruhigt runzelte er die Stirn. Normalerweise lebten die Verbannten in kleineren Rudeln von maximal sechs Mitgliedern, da die lebensfeindlichen Umweltbedingungen es nahezu unmöglich machten, genug Nahrung für eine größere Anzahl Vargéris zu beschaffen. Sie streiften in diesen Verbänden auf der Suche nach Beute durch ein riesiges Revier und fochten erbitterte Kämpfe mit anderen Rudeln aus, die ihr Revier betraten. Diese Kämpfe endeten für eines der Rudel immer tödlich. Die Verbände hielten sich aus diesem Grund meistens streng an die Reviergrenzen.
Eine Ausnahme stellte dabei allerdings die Suche nach einer Gefährtin dar. Da es nur sehr wenige weibliche Verbannte gab, entbrannte um sie regelmäßig ein erbitterter Kampf zwischen den einzelnen Rudelführern. Ein Rudel, das eine Vargéri-Frau bei sich hatte, musste folglich jederzeit mit dem Angriff eines fremden Verbandes rechnen.
Umso merkwürdiger war es also, dass Hralfor nun in einem relativ kleinen Revier die Spuren von mindestens zwanzig verschiedenen Verbannten erkennen konnte, die sich anscheinend regelmäßig, und ohne gegeneinander zu kämpfen, hier aufhielten. Es hatte beinahe den Anschein, als hätten sich mehrere Rudel zu einer größeren Einheit zusammengeschlossen.
Hralfor knirschte grimmig mit den Zähnen. Das konnte nur eine Ursache haben. Die Möglichkeit des Weltenwechsels hatte dazu geführt, dass einige Verbannte nun auf ungewöhnliche Weise miteinander kooperierten, um so ihre Interessen besser wahren zu können.
Diese Entwicklung würde es ihm nahezu unmöglich machen, sein Ziel alleine zu erreichen. Er traute sich zu, mit einzelnen kleineren Rudeln fertig zu werden, doch einem Zusammenschluss mehrerer Verbände hatte er nichts entgegenzusetzen.
Mit finsterer Miene und noch viel vorsichtiger als bisher setzte Hralfor seinen Weg fort. Er musste auf jeden Fall ungesehen an den Ort des Geschehens gelangen, um sich ein genaueres Bild machen zu können. Dann erst konnte er sich eine geeignete Strategie ausdenken.
Es dauerte noch einmal einen ganzen Tag, bis Hralfor sich Meter um Meter durch die wilde und zerklüftete Küstenregion gearbeitet hatte. Einige Male kam er dabei kleineren Gruppen von Verbannten gefährlich nahe. Dabei erwies es sich als vorteilhaft, dass dieses Revier offensichtlich von ungewöhnlich vielen Verbannten betreten wurde. Hätte es sich um ein einziges, kleines Rudel gehandelt, wäre Hralfors fremder Geruch sofort aufgefallen und hätte zu einer tödlichen Verfolgungsjagd geführt. So allerdings schien sich sein Geruch mit den vielen verschiedenen Düften zu vermischen und erregte keine Aufmerksamkeit. Dennoch benötigte Hralfor sein ganzes Geschick, um durch den Ring der Verbannten zu gelangen, den sie um die Klippen gezogen hatten, die er erreichen musste.
Als er schließlich am Ziel seiner Reise angekommen war, lehnte Hralfor sich aufseufzend in die Felsspalte einer der Klippen und verschmolz mit ihrem Schatten. Von hier hatte er einen guten Ausblick auf die windgepeitschte Küste, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden.
Prüfend nahm er die Landschaft in sich auf.
Ja, es hatte sich viel verändert in den letzten Jahren. Dort, wo die schroffen Klippen damals direkt in den stürmischen Ozean abgefallen waren, hatten sich inzwischen kleine Felsenbecken gebildet, in denen sich das durch die Stürme aufgepeitschte Wasser des Ozeans sammelte.
Hralfor wusste, dass diese Becken nicht auf natürlichem Weg entstanden waren. Das war in dem kurzen Zeitraum von etwas mehr als einer Centone undenkbar. Die Becken waren künstlich angelegt worden und er wusste auch, von wem.
Angewidert verzog er sein Gesicht.
Er hatte schon einmal etwas Ähnliches wie diese Felsenbecken gesehen, in einer fremden Wasserwelt, in die sein Vater ihn damals mitgenommen hatte, um die Mordaufträge eines mächtigen Mannes zu erledigen.
Rangafir hatte diesen Mann den Schwarzen genannt und Todesangst vor ihm gehabt. Der Schwarze war das einzige Wesen gewesen, vor dem Hralfors Vater jemals gezittert hatte. Und dort, in der Dunklen Festung des Schwarzen, hatte es dieselben Felsenbecken gegeben, mit deren Hilfe er sich Übergänge in andere Welten erzwungen hatte.
Offensichtlich hatte er mit der Welt der Verbannten noch weitere Pläne gehabt, sodass er sich auch hier solche Übergangs-becken geschaffen hatte. Doch es war schließlich nicht dazu gekommen, da er in einem dramatischen Endkampf in Hralfors Heimatwelt besiegt und vernichtet worden war.
Die Becken auf Vargor waren dabei jedoch unversehrt geblieben und wurden nun von den Verbannten für ihre üblen Taten genutzt.
Bisher hatten die Vargéris anscheinend nur herausgefunden, wie man mit ihrer Hilfe in die Welt der Menschen gelangen konnte, das war bereits schrecklich genug. Doch Hralfor vermutete aufgrund seiner Erfahrungen in der Dunklen Festung, dass man damit auch noch in andere Welten überwechseln konnte. Dort hatte jedes einzelne der mit Meerwasser gefüllten Becken den Zugang zu einer anderen Welt geöffnet.
Hralfor erinnerte sich noch sehr genau an ein Gespräch, das er als Kind in der Dunklen Festung belauscht hatte. Rangafir hatte damals erwähnt, dass die Weltenwechsel am einfachsten in der Nähe von Wasser, am besten Meerwasser, durchgeführt werden konnten. Diese Tatsache hing auf irgendeine Weise damit zusammen, dass die Meere aller Welten aus einem einzigen Urozean entstanden waren und dadurch für immer eine Verbindung zueinander hatten. Diese Verbindung ermöglichte es, mithilfe der Ozeane zwischen den Welten zu wechseln.
Nachdem die Verbannten hier auf ihrem Kontinent inzwischen herausgefunden hatten, dass eines der Felsenbecken ihnen den Weg in die Welt der Menschen öffnete, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie dieses Wissen auch auf weitere Becken anwandten. Die Folgen davon waren nicht auszudenken. Es musste dringend etwas dagegen unternommen werden.
Die Felsenbecken mussten zerstört werden.
Hralfor stand lange finster grübelnd da, während sich die Dunkelheit vertiefte und die nächtlichen Stürme an Heftigkeit gewannen. Er sah keine Möglichkeit, allein etwas gegen diese Bedrohung zu unternehmen. Er bezweifelte sogar, dass es selbst den fähigsten Vertretern seiner Heimatwelt möglich war, die Gefahr, die von den Felsenbecken ausging, zu bannen.
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