Zum Glück besaß er noch den Übergangsstein seines Vaters, sodass er keinen der Verbanntentransporte abwarten musste, um auf den Kontinent zu gelangen.
Da die Verbannung nur bei schwersten Verbrechen ausgesprochen wurde, dauerte es manchmal Jahre, bis wieder ein Verbanntentransport zusammengestellt wurde. Er war jedes Mal mit hohen Risiken verbunden, da der Ozean, der den Kontinent umgab, von heftigen Stürmen gepeitscht wurde und nur mit einem ganz besonders ausgestatteten Schiff in den Sommermonaten befahren werden konnte.
Doch der Übergangsstein ermöglichte es Hralfor, wie bei einem Weltenwechsel direkt auf den Kontinent zu gelangen. Und so war er nun hierher gewechselt und versuchte, sich nach den langen Jahren seiner Abwesenheit neu zu orientieren.
Er hatte eine ungefähre Ahnung, wo sich der Ort befinden musste, an dem die Übergänge stattfanden. Schließlich hatte man ihn als Kind einmal dorthin gebracht, um in eine andere Welt zu wechseln – und laut Hannah hatte er ja ein Gedächtnis wie ein Elefant.
Bei diesem Gedanken trat ein zärtlicher Ausdruck in seine gegen den Wind fest zusammengekniffenen Augen. Was Hannah in diesem Moment wohl gerade tat?
Seit er sie verlassen hatte, fühlte er sich unvollständig und verloren. Sobald er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich. Ihre ausdruckstarken, grauen Augen, die winzigen Punkte auf ihrer Nase und ihr spontanes Lächeln, das sein Herz automatisch heftiger schlagen ließ.
Nur wegen ihr war er hier. Wenn er sie schon nicht aus der Nähe beschützen konnte, wollte er zumindest sichergehen, dass sie nie wieder in eine so schreckliche Gefahr geriet wie in jener Nacht, in der er ihr das erste Mal begegnet war.
Entschlossen zog Hralfor den Umhang fester um sich und fiel in den kräftesparenden Vargéri-Trab, mit dem er ohne Pause tagelang gewaltige Strecken zurücklegen konnte.
Er hatte ausreichend Vorräte bei sich, sodass er sich nicht mit der Jagd aufhalten musste, und würde in diesem Tempo in ungefähr fünf Tagen sein Ziel erreichen. Vorausgesetzt natürlich, dass der eisige Wind sich nicht noch zu einem der gefährlichen Winterstürme auswuchs.
Das Ärgerlichste an dem Wind war, dass er seine Geruchswahrnehmung behinderte. Er war dadurch nicht in der Lage, genauer zu bestimmen, in welcher Entfernung sich andere Lebewesen aufhielten. Und das permanente Brausen machte es schwer, feinere Geräusche zu erkennen.
Er wusste, dass es ihn einige Zeit kosten würde, bis er sich wieder an diese Bedingungen gewöhnt hatte. Bis dahin waren seine Feinde ihm gegenüber entschieden im Vorteil.
Hralfor hatte keine Ahnung, wie viele Verbannte in den Revieren lebten, die er zwangsweise durchqueren musste. Er konnte nur darauf hoffen, dass er keinem Rudel in die Fänge lief, bis er sich wieder vollständig an die Gegebenheiten angepasst hatte.
In den ersten beiden Tagen hielt sein Glück an.
Er lief durch eine völlig ausgestorbene Schneelandschaft. Die wenigen Sträucher und Bäume, die hier mühsam um ihr Überleben kämpften, zeichneten sich durch eine niedrige Wuchsform aus und formten unter der isolierenden Schnee-decke bizarre Schatten in der allgegenwärtigen Dunkelheit.
Hralfors vargérische Augen konnten keinerlei Anzeichen von tierischem Leben entdecken, was wohl auch der Grund dafür war, dass dieses Revier so verlassen war. Wo es keine Nahrung gab, konnten sich auch die Verbannten nicht halten.
Am dritten Tag ging die Tundra ähnliche Landschaft allmählich in einen zerklüfteten Gebirgszug über.
Und da spürte Hralfor, dass er verfolgt wurde.
Er schärfte seine Sinne, während er unermüdlich über den felsigen Untergrund lief. Dabei nahm er den Geruch von mindestens drei Verbannten auf, die ihn verfolgten und dabei versuchten, ihn allmählich seitlich in die Zange zu nehmen. Diese Jagdweise war ihm nur zu vertraut.
Konzentriert suchte er die Landschaft vor sich nach einem geeigneten Ort ab. Er wusste, dass er sich seinen Gegnern früher oder später stellen musste, da war es besser, er bestimmte die Bedingungen des Kampfes. Nach einigen Minuten hatte er die passende Kampfarena gefunden.
Es handelte sich um einen kleinen Felskessel, der in einen schmaleren Pfad mündete. Wenn er diesen Kesselausgang erreichte, konnte er die Stellung einige Zeit halten, während die Felswand ihm eine gewisse Rückendeckung bot.
Er mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und flog förmlich auf den Kessel zu.
Seine Verfolger schienen seine Absicht zu erraten und beschleunigten ihren Lauf ebenfalls. Hralfor konnte bereits einen von ihnen aus dem Augenwinkel erkennen. Er befand sich beinahe auf gleicher Höhe mit ihm.
Dann hatte Hralfor die Rückwand des Kessels erreicht und warf sich herum, um sich seinen Gegnern zu stellen. Ihm blieb gerade noch die Zeit, sein Schwert zu ziehen, als der Erste bereits zum Sprung ansetzte und auf ihn zuflog.
Offensichtlich hatte sein Angreifer nicht mit der Länge von Hralfors Waffe gerechnet – eine Unachtsamkeit, die er mit seinem Leben bezahlte.
Die beiden anderen gaben ein wütendes Knurren von sich, näherten sich ihrer Beute jedoch etwas vorsichtiger.
Und dann begann ein Kampf, der Hralfor wieder in die ersten Jahre seines Lebens zurückversetzte.
Sein Vater hatte ihn damals regelmäßig zu Kämpfen mit anderen, bereits ausgewachsenen Verbannten gezwungen, um ihn zu einem besonders guten Krieger auszubilden. Er hatte dabei keine Gnade gekannt, ebenso wenig wie seine Gegner. Seither trug Hralfors Körper die Narben dieser Auseinandersetzungen.
Er hatte diese Kämpfe damals gehasst und er hasste sie auch heute noch, doch das änderte nichts daran, dass er dadurch zu einem herausragenden Vargéri-Krieger geworden war. Die zusätzliche Kampfausbildung, die er später noch in seiner Heimatwelt erhalten hatte und bei der er gelernt hatte, verschiedene Kampfweisen aufs Wirkungsvollste miteinander zu verflechten, machten ihn mittlerweile zu einem nahezu unüberwindbaren Gegner für zwei halb verhungerte, unausgebildete Verbannte.
Dennoch unterlief ihm ein beinahe tödlicher Fehler. Er zog nicht in Betracht, dass es sich bei seinen Angreifern um mehr als drei Rudelmitglieder handeln konnte und konzentrierte sich ausschließlich auf sie. Dabei entging ihm, dass ein vierter Angreifer einen längeren Weg über die Felswand des Kessels in Kauf genommen hatte, um sich ihm von hinten zu nähern. Und genau in dem Moment, in dem Hralfor den letzten der drei Verbannten erschlug, löste sich ein vierter Schatten von der Felswand in seinem Rücken und sprang ihn an.
Nur Hralfors blitzschneller Reaktion war es zu verdanken, dass das mörderische Gebiss sich nicht in sein Genick versenkte, sondern lediglich die Schulter traf.
Mit einem wütenden Knurren schleuderte Hralfor seinen Gegner von sich, wobei dessen Reißzähne eine klaffende Wunde hinterließen. Dann war Hralfor über ihm und versenkte sein Schwert tief in der Brust des Angreifers.
Mit letzter Kraft taumelte er zur Felswand und suchte dort Halt, während er mit allen Sinnen die Gegend nach weiteren Gegnern absuchte. Doch offensichtlich hatte es sich wirklich nur um ein Rudel aus vier Mitgliedern gehandelt, sodass Hralfor sich eine kurze Pause gönnen konnte, um seine Verletzung zu versorgen. Er blutete heftig und befürchtete, dass der Blutgeruch weitere Feinde herbeilocken könnte.
Schnell schälte er sich aus seiner Oberbekleidung und häufte Schnee auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Dann verteilte er notdürftig eine Heilpaste darauf und verband sie, so gut es ihm einhändig möglich war, mit demselben Verband, den er Hannah so oft angelegt hatte.
Bei der Erinnerung daran schloss Hralfor die Augen, um das Mädchen wieder vor sich zu sehen. Der Verband an seiner Schulter trug noch einen Hauch von Hannahs ganz eigenem Geruch in sich. Hralfor stöhnte auf und vergrub seine Nase darin. Er konnte sie so deutlich vor sich sehen, dass er schon die Hand ausstrecken wollte, um sie zu berühren.
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