Es war bereits Morgen. Hannah fühlte sich eiskalt und zitterte am ganzen Körper. Schnell rannte sie ins Bad und stellte sich unter die heiße Dusche. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie so weit aufgewärmt war, dass sie nur noch den mittlerweile schon vertrauten Eisklumpen in ihrem Inneren spürte. Sie rubbelte sich am ganzen Körper trocken, bis ihre Haut glühte und schlüpfte in ihre geliebte Jogginghose und das bunte T-Shirt. Dann machte sie sich eine Kanne Tee und wartete da-rauf, dass es endlich zehn Uhr wurde und sie Jacobs Unterlagen erhielt.
Sie hatte zwar keine Ahnung, wie Jacob es schaffen wollte, die Papiere so schnell zusammenzustellen und an sie zu schicken, dennoch zweifelte sie keine Sekunde daran, dass es so geschehen würde. Und richtig. Pünktlich um zehn Uhr klingelte es an ihrer Tür und Hannah lief, ohne weiter nachzufragen, zum Hauseingang und riss die Tür weit auf.
Diesmal stand ein junges Mädchen davor und hielt ihr einen dicken Umschlag entgegen. »Hallo, du bist Hannah?«
Hannah blinzelte verwirrt. Das Mädchen war kaum älter als sie und wirkte durch und durch normal . Sie war etwas kleiner als Hannah, hatte kurze, ziemlich verstrubbelte, braune Haare und fröhliche, hellbraune Augen. Ihr Mund wirkte recht breit in dem schmalen, gebräunten Gesicht und verbreiterte sich noch mehr, als sie Hannah freundschaftlich angrinste. Das gab ihr ein freches, beinahe jungenhaftes Aussehen, was durch ihre schlanke Gestalt noch verstärkt wurde.
»Ja, die bin ich«, beantwortete Hannah die Frage mit einiger Verspätung.
Das Grinsen in dem braunen Gesicht wurde noch breiter. »Hast du mit irgendeinem Parallelweltler gerechnet? Du siehst fast ein bisschen enttäuscht aus.«
Hannah schüttelte verlegen den Kopf. »Nein, ich habe eigentlich mit gar nichts gerechnet, höchstens mit einem ganz normalen Postboten.«
Das Mädchen lachte verschmitzt. »Bei uns ist nie etwas ganz normal, damit solltest du dich gleich mal abfinden. Aber wie sieht’s aus, lässt du mich vielleicht mal rein? Ich platze fast vor Neugier, wie du so bist.«
Hannah trat völlig überrumpelt einen Schritt zur Seite, um das Mädchen hereinzulassen. Unbekümmert lief sie an ihr vorbei und betrat, ohne zu zögern, die Einliegerwohnung. »Ich heiße übrigens Charlotte«, sie verzog angewidert das Gesicht, »aber alle nennen mich Charly.« Prüfend sah sie sich in der kleinen Wohnung um. »Hey, das ist ja klasse. Hast du hier wirklich vier Tage mit einem Vargéri gehaust? War das nicht unheimlich?«
Hannah wurde bei der Frage bleich. Ihre Stimme klang schneidend. »Nein, es war überhaupt nicht unheimlich, er war nämlich sehr rücksichtsvoll und hat sich nicht in Sachen eingemischt, die ihn nichts angingen.«
»Autsch!« Das Mädchen verzog das Gesicht. »Da bin ich mal wieder ins Fettnäpfchen getreten, was? Tut mir echt leid, ehrlich. Ich wollte nicht unverschämt sein. Es ist nur so, dass die Vargéris bei uns zu den am meisten gefürchteten Parallelweltlern gehören. Ich hab nur einmal einen von Weitem gesehen und das hat mir gereicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du mit ihrem Überfall klargekommen bist. Deshalb bin ich ja so neugierig.«
Charly sah sie so treuherzig und bittend an, dass Hannah lachen musste. Sie mochte das Mädchen. Charly war vielleicht etwas zu direkt und neugierig, aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und sagte, was sie dachte.
Etwas hilflos hob sie die Schultern. »Was willst du denn genau wissen? Du scheinst ja bereits bestens über alles informiert zu sein.«
Eifrig beugte Charly sich zu ihr. Sie schien erleichtert, dass Hannah nicht mehr sauer auf sie war. »Stimmt es, dass du es mit drei Verbannten zu tun hattest? Wie hast du überlebt und wie konntest du danach so mutig sein, einen von ihnen bei dir aufzunehmen? Ich wäre vor Angst gestorben.«
Hannah runzelte die Stirn, während sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Hralfor ist keiner von ihnen. Ich meine, er ist kein Verbannter. Er hat mir das Leben gerettet. Er hat die drei getötet, bevor sie mir etwas antun konnten. Dann wollte er wieder zurückwechseln, doch sein Übergang war blockiert. Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte ihn, nachdem er mir geholfen hatte, doch nicht einfach ohne Unterschlupf in einer fremden Welt allein stehen lassen. Ich war es ihm schuldig. Natürlich hatte ich anfangs etwas Angst vor ihm, aber das hat sich innerhalb kürzester Zeit gelegt. Niemand, der ihn kennenlernt, könnte danach noch Angst vor ihm haben. Er ist der beste Freund, den man sich nur vorstellen kann.«
Charly hörte ihr aufmerksam zu. »Du vermisst ihn ziemlich, nicht wahr? Deshalb hast du dich auch entschlossen, bei uns mitzumachen. Ich bin total froh darüber. Wir werden das nächste Schuljahr gemeinsam unterrichtet werden. Es gibt nicht viele Schüler in unserem Alter, unsere Klasse ist daher recht klein, aber es sind alles echt interessante Leute. Es wird dir gefallen. Und mir auch. Dann bin ich nicht mehr das einzige Menschenmädchen dort.«
Hannah sah sie groß an. »Du meinst, wir werden mit anderen Parallelweltlern unterrichtet?«
»Ja klar, was denkst du denn? Bei der OCIA werden alle Kinder der Beschäftigten gemeinsam unterrichtet, egal, aus welcher Welt sie kommen. Und der Unterricht ist super. Du lernst nicht nur den Stoff aus unserer Welt, sondern auch noch alles Mögliche aus den Parallelwelten, mit denen wir bisher zu tun hatten. Das ist zwar ziemlich viel, aber unsere Lehrer haben es echt drauf. Ich bin mal für ein Jahr auf eine andere Schule gegangen, weil ich andere Mädchen in meinem Alter kennenlernen wollte. Ich hatte die Nase voll davon, so ein exotischer Freak zu sein. Aber nach dem Schuljahr bin ich ganz schnell wieder zur PAIX zurückgegangen, das kannst du mir glauben. Ich hatte das Gefühl, noch einen Tag länger und ich würde verblöden oder vor Langeweile sterben.«
Hannah versuchte verwirrt, Charlys Wortschwall richtig zu verstehen. »Das heißt, du warst von Anfang an bei der OCIA? Und was bedeutet PAIX?«
Charly grinste sie breit an. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wovon ich die ganze Zeit quatsche, oder? Ich vergesse einfach immer, dass du erst seit ein paar Tagen von uns weißt. Ich kenne die OCIA nämlich schon mein ganzes Leben lang. Meine Eltern sind schon vor meiner Geburt dabei gewesen. Sie kommen auch aus Deutschland und haben die ersten Jahre nach meiner Geburt hier gelebt, damit ich meine Wurzeln kennenlerne.«
Charly verdrehte genervt die Augen. »Ich bin am Anfang auf eine ganz normale Grundschule gegangen, aber da haben mich alle bald angeguckt, als ob ich nicht ganz richtig im Oberstübchen wäre, weil ich immer so komisches Zeug von anderen Welten erzählt habe. Später sind wir dann nach Neuseeland gezogen. Dort hat die OCIA ihren Hauptsitz und dort sind auch die ganzen Schulen und Unis für die Beschäftigten. Das war dann richtig klasse für mich. Ich hab die coolsten Typen kennengelernt und keiner hat mehr gelacht, wenn ich von anderen Welten gesprochen habe. Aber wie gesagt, in meinem Alter gibt es keine anderen Mädchen, und ich wollte mal etwas anderes, Normaleres kennenlernen. Also hab ich mich vor drei Jahren für ein Schuljahr in einer anderen Schule anmelden lassen. Was daraus geworden ist, hab ich dir ja schon erzählt. Also bin ich wieder zurück zur PAIX. So heißt unser Ausbildungszentrum. Es ist die Abkürzung für Pupils’ Academy of Intercultural Exchange . Das ist der Name, den die OCIA in der Öffentlichkeit für ihr Ausbildungszentrum verwendet. Sie tun so, als ob es um so eine Art internationalen Schüler- und Studentenaustausch geht. Und irgendwie ist es ja auch so. Nur dass der Austausch nicht zwischen den Nationen, sondern zwischen den Universen stattfindet.«
Charly kicherte vergnügt vor sich hin. »Das ist übrigens eine der ersten Richtlinien, die du bei der OCIA lernst. Wenn du schon lügst, halte dich so eng wie möglich an die Wahrheit.« Sie sah auffordernd auf den Umschlag, den Hannah noch immer ungeöffnet in der Hand hielt. »Willst du den nicht mal aufmachen? Jacob hat mich extra instruiert, dass ich dir beim Ausfüllen helfen soll, wenn du was nicht verstehst. Es war echt Glück, dass ich in diesen Ferien meine Oma besucht habe, sonst hätten sie jemand anderen geschickt, der sich hier in der Nähe aufhält. Das hätte mich ganz schön geärgert!«
Читать дальше