Hannah sah das Mädchen eine Weile nachdenklich an. Es mochte ja sein, dass Charly schon so viel mehr über fremde Welten wusste als sie, dennoch fühlte sie sich im Moment viel älter und erfahrener als das Mädchen. Für Charly klang es, als sei es ein großer Spaß, mit einer fremden Kreatur um sein Leben zu kämpfen. Sie hatte nie das lähmende Entsetzen kennengelernt, das einen befiel, wenn man wirklich um sein Leben fürchtete. Und noch schlimmer, die quälenden Selbstvorwürfe, die man unweigerlich hatte, wenn man für den Tod eines anderen Lebewesens verantwortlich war. Egal, wie sehr es ihn verdient zu haben schien. Wie konnte sie diese Gefühle einem Mädchen wie Charly erklären?
Bedrückt seufzte sie auf. »Ich weiß nicht, ob ich dir das ganze Grauen, das ich in dieser Nacht gespürt habe, auch nur annähernd schildern kann. Es war einfach furchtbar. Es gab dabei nichts, wirklich gar nichts, was in irgendeiner Weise heldenhaft oder dramatisch war, so wie man das in Filmen immer sieht. Dort kommt dann immer bedrohliche Musik und die Hauptdarsteller werden in Großaufnahme gezeigt, damit man das Entsetzen auf ihren Gesichtern besser sehen kann. Aber die Wirklichkeit ist dann völlig anders. Du fühlst dich wie gelähmt und irgendwie hast du das Gefühl, als ob das alles gar nicht echt ist, als ob du jeden Augenblick aufwachen würdest. Und während du darauf wartest, bemerkst du den entsetzlichen Geruch, der von den An-greifern ausgeht. Du riechst deinen eigenen Angstschweiß und hast das Gefühl, als ob du jeden Moment vor Entsetzen in die Hose machst. Als der Angreifer mich dann gepackt hat, da habe ich an überhaupt nichts mehr gedacht. Mein Kopf war völlig leer. Ich habe einfach instinktiv reagiert und zugestochen. Und erst danach habe ich wieder angefangen, etwas mitzubekommen. Und das, was ich mitbekommen habe, war dann fast das Allerschlimmste. Ich habe gesehen, dass ich den Mann schwer verletzt habe. Er muss wahnsinnige Schmerzen gehabt haben und ich kam mir so schlecht und unmenschlich und völlig hilflos vor. Das war schlimmer als die Todesangst, die ich davor gespürt habe. Glaub mir, es ist nichts Tolles dabei, einen anderen zu verletzen und zu töten. Du kommst dir danach nur unsäglich schmutzig und besudelt vor. Und das ist es auch, was ich diesem Vargéri nie verzeihen werde, nämlich dass er mich durch sein Verhalten gezwungen hat, etwas so Entsetzliches zu tun. Ich werde es nie vergessen können, solange ich lebe.«
Nach ihren Worten herrschte lange Zeit Stille. Charly war ganz blass geworden und hatte die Lippen fest zusammengepresst. Schließlich nickte sie. »Ich glaube, jetzt verstehe ich, warum sie uns nicht früher auf Außeneinsätzen zulassen. Nach dem, was du gerade erzählt hast, ist das immer noch früh genug. Ich denke, ich werde unser Physiotraining von jetzt an in einem ganz anderen Licht sehen.«
Erleichtert seufzte Hannah auf. Charly hatte offensichtlich verstanden.
Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, und Hannah sah Charly besorgt an. »Es ist ziemlich spät. Wie kommst du eigentlich wieder nach Hause? Du gehst doch zurück zu deiner Oma, oder?«
»Klar.« Charly hielt fröhlich ein kleines Gerät in die Höhe. »Ich habe einen Chauffeur, der nur darauf wartet, dass er mich hier abholen kann. Ich muss nur auf diesen Knopf drücken.« Sie grinste Hannah breit an. »Es hat schon was, im Auftrag der OCIA unterwegs zu sein. Du kommst dir richtig wichtig vor. Und eigentlich war das heute ja schon mein erster Außeneinsatz, oder?«
Hannah erwiderte das Grinsen. »Auf jeden Fall, wenn auch nicht mit Kontakt zu Parallelweltlern.« Dann wurde sie wieder ernst. »Es war schön, dich kennenzulernen. Jetzt kann ich mich wirklich auf die neue Schule freuen. Ich kann es kaum erwarten, nur noch zwei Wochen! Ich muss mir überlegen, was ich meinen Eltern erzählen soll.«
Charly blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Erzähl ihnen einfach, dass du ein total nettes Mädchen kennengelernt hast, das dich auf die Idee mit dem Austauschjahr gebracht hat. Und dass du dich daraufhin bei PAIX beworben hast und gleich genommen wurdest, weil du so talentiert bist.« Sie lachte verschmitzt. »Du weißt doch noch, Regel Nummer eins: Bleib immer so nah wie möglich an der Wahrheit. Ich gebe dir meine Handynummer. Wenn sie wollen, können deine Eltern bei mir anrufen und sich über die Schule erkundigen. Ich könnte sie sogar mit meinen Eltern verbinden. Die würden dann bestätigen, was es für ein Glückstreffer ist, bei PAIX angenommen zu werden.«
»Du, das ist gar keine so schlechte Idee«, überlegte Hannah. »Wenn ich die Geschichte noch ein bisschen anpasse, dann könnte sie als Erklärung durchgehen. Vielen Dank.«
»Keine Ursache, war mir ein Vergnügen.« Charly lachte frech. »Ich stehe dir immer zur Verfügung, wenn du mal wieder eine Ausrede benötigst. Darin bin ich richtig gut. So, und jetzt werde ich meinen Piepser aktivieren, damit ich heimkomme, sonst macht Oma sich noch Sorgen.«
Charly drückte den Knopf an dem kleinen Gerät und lief dann zu Hannah, um sie schnell zu umarmen. »Ich freu mich schon so auf das kommende Schuljahr, du glaubst es nicht. Wir werden jede Menge Spaß miteinander haben und richtig gute Freundinnen werden, da bin ich mir ganz sicher. Also, pass auf dich auf und bis bald.«
Hannah erwiderte die Umarmung herzlich. »Ich glaube, wir sind schon Freundinnen. Ich bin so froh, dass du mir den Umschlag gebracht hast.«
Die beiden Mädchen lachten sich noch einmal zu, dann stürmte Charly aus dem Haus und war bald darauf in der Dunkelheit verschwunden.
8
Er hatte tatsächlich vergessen, wie kalt und dunkel es hier war. Ein eisiger Wind fegte über die unwirtliche Kältewüste, die unter einer dicken Schneedecke lag. Es würde noch einige Monate dauern, bevor sich der lange, extrem kalte Winter ganz langsam dem Ende zuneigte. Wenn dann der kurze, kühle Sommer begann, würde es für knapp zwei Monate ein wenig heller werden, doch die lebensfeindlichen Umweltbedingungen würden sich kaum ändern. Beinahe der gesamte Kontinent der Verbannten war durch Permafrost gekennzeichnet und bot nichts als zerklüftete Gebirgszüge, Vulkane, Tundren und sturmgepeitschte Küstenregionen.
Hralfor zog schaudernd die Schultern hoch. Er hatte gehofft, nie wieder einen Fuß auf dieses verhasste Land setzen zu müssen. Dennoch war er nun hier, aus freien Stücken, und die mühsam verdrängten Erinnerungen an die qualvollste Zeit seines Lebens überrollten ihn mit unerwarteter Heftigkeit.
Doch er bereute seinen Entschluss nicht eine Sekunde lang. Er hatte ihn im selben Augenblick gefasst, in dem er den entsetzten Ausdruck in Hannahs Augen gesehen hatte – in jener Nacht, in der sie beinahe in diese Welt entführt worden war.
Schon da hatte er sich geschworen, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, damit nie wieder eine Frau einer so grauenhaften Gefahr ausgesetzt war. Er würde die Quelle ausfindig machen, mit deren Hilfe die Verbannten ihre Welt verlassen konnten, um andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Er würde sie finden und mit aller Macht versuchen, sie endgültig zu zerstören. Und wenn es das Letzte war, was er in seinem Leben vollbrachte.
Aus diesem Grund war er gleich nach seiner Ankunft auf Vargor zu den obersten Vertreterinnen der Vargéris, den Weiserinnen, gegangen und hatte sie von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er benötigte ihre Erlaubnis, um den Kontinent der Verbannten zu betreten, da ein Verstoß gegen das absolute Isolationsgebot dieses Kontinents mit der Todesstrafe geahndet wurde.
Sein Anliegen hatte zu einigem Aufruhr geführt, doch schließlich war ihm die Genehmigung erteilt worden. Die Übergriffe der Verbannten auf andere Welten hatten sich in den letzten Jahren so gehäuft, dass es durchaus im Interesse der Weiserinnen lag, diesem Treiben ein Ende zu setzen.
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