Jetzt kann er, was er wirklich will, Dichter sein, und er erkennt, als Dichter bestehen kann er nur, wenn er zu seiner ureigensten Sprache findet. Doch die wiederum findet er nur, wenn er seine Themen selbst setzt. Er entdeckt, Gültiges gelingt ihm nur aus eigenem Erleben heraus. Nur dann stellen sich Assoziationen ein, die die Dinge tiefer durchdringen. Nur dann ist es möglich, Dinge und Geschehnisse auf ihr Wesen zu reduzieren – und im Leser Bilder und Empfindungen zu wecken. Damit stellt er sich außerhalb des „Hochwaldes“, der seine Bäume zum Gleichmaß erzieht.
DER HOCHWALD ERZIEHT SEINE BÄUME
Der hochwald erzieht seine bäume
Sie des lichtes entwöhnend, zwingt er sie,
all ihr grün in die kronen zu schicken
Die fähigkeit,
mit allen zweigen zu atmen,
das talent,
äste zu haben nur so aus freude,
verkümmern
Den regen siebt er, vorbeugend
der leidenschaft des durstes
Er lässt die bäume größer werden
wipfel an wipfel:
Keiner sieht mehr als der andere,
dem wind sagen alle das gleiche 36
Ihm wird bewusst, was er in seinen lyrischen Anfängen verfasst hat, war selten mehr als die Illustration vorgegebener Ideen. Noch dazu im hohen Ton des Pathos konnte dabei nur Plattheit herauskommen: „Die fähigkeit … das talent … verkümmern.“
Für Reiner Kunze völlig unerwartet verändert die Lyriksendung im Berliner Rundfunk im Juni 1959 ein zweites Mal sein Leben. Wieder sind seine Gedichte der Grund. Fast ein halbes Jahr nach der Sendung erreicht ihn eine Karte aus Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem). Eine Hörerin bittet darauf in perfektem Deutsch um eines der Gedichte. Nach der Handschrift vermutet er eine pensionierte Germanistin. Er schickt dieser Elisabeth Littnerová seinen Gedichtband Vögel über dem Tau und es entspinnt sich ein Briefwechsel, der nach anderthalb Jahren vierhundert Briefe umfasst. Elisabeth Kunze erzählt darüber: Ich hatte Spätdienst in der Poliklinik und kam etwa um zehn Uhr nach Hause. Ich hab mir mein Abendessen gemacht, Kartoffeln geschält und das Radio eingeschaltet. Sie brachten Gedichte. Bei einem musste ich aufhören zu schälen. Es war „Das Märchen vom Fliedermädchen“. Ich war so berührt, dass ich das Gedicht haben wollte. Aber ich wusste nicht, welcher Sender es war.
Am nächsten von Aussig lag Dresden. Also hab ich einfach geschrieben: „Radio Dresden, Dresden, DDR.“ Ich hatte nur den Namen „Kunz“ gehört. Und ich dachte, vielleicht hat er im vergangenen Jahrhundert gelebt. Radio Dresden hatte die Sendung nicht gemacht und schickte meine Karte nach Leipzig. Leipzig hatte die Sendung auch nicht gemacht, aber derjenige, der das bearbeitete, war so nett und hat die Karte nicht in den Papierkorb geworfen, sondern nach Ostberlin geschickt. Ich hatte schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet. Plötzlich kam das ganze Sendemanuskript und die Redakteurin, Frau Fiebig, den Namen werden wir nie vergessen, schrieb, sie hätte die Karte an den Autor weitergeleitet.
Im Januar, das weiß ich noch ganz genau, kam ein Brief, darin das Buch mit Widmung. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, dass der Autor mir sein Buch schickt. Ich setzte mich spontan hin und schrieb ihm, wie ich vom Nachtdienst spät heimkam, müde war und plötzlich sein Buch hier fand. Das war der Anfang eines langen Briefwechsels.
Elisabeth Littnerovás Vater stammt aus Iglau (Jihlava), einer deutschen Sprachinsel in Mähren, südwestlich von Brünn (Brno). Dorthin hatte einst der böhmische König deutsche Bergleute für den Silberbergbau angeworben. Ihre Mutter ist eine Tschechin aus Wien.
Das Mädchen Elisabeth wird in Znaim (Znojmo), Südmähren, geboren. Ab 1937 wird auch Südmähren von Hitler annektiert, und Elisabeth besucht deutsche Schulen. Ihr Vater kommt als Wehrmachtssoldat nach Russland und gilt schließlich als vermisst. Als 1945 die wilden Vertreibungen beginnen, beschützt die Familie ein tschechischer Onkel, ein katholischer Priester in der Nähe von Znaim. Ende 1946 kehrt der Vater aus Russland zurück und will mit seiner Familie nach Österreich auswandern. Doch die Behörden eröffnen ihm, als Deutscher solle er sich scheiden lassen, dann könne er gehen, seine tschechische Frau und die Kinder müssen bleiben. Es ist die Zeit der Bẹneš-Dekrete. Gemischtehen sind der Führung ein Dorn im Auge. Der Vater entscheidet sich, bei seiner Familie zu bleiben, leidet in der ČSSR aber zeitlebens unter seiner Ausgrenzung als Deutscher.
Elisabeth darf Medizin studieren und wird als Fachärztin für Kieferorthopädie an die Poliklinik von Aussig delegiert. In ihrem Inneren, sagt sie, fühlte sie sich immer der deutschen Kultur verbunden, sie habe deutsche Bücher gelesen und auf ihrem uralten Radio deutsche Sender gehört.
In ihren Briefen erzählen Elisabeth Littnerová und Reiner Kunze sich ihre Leben. Besuchen dürfen sie einander nicht. Die Grenze ist für Privatpersonen geschlossen. Mit Elisabeths Hilfe entdeckt Reiner Kunze die tschechische Literatur.
Einem ihrer ersten Briefe hatte die junge Ärztin Gedichte des von ihr sehr geschätzten Vít Obrtel beigelegt. Reiner Kunze fragt nach weiteren Dichtern. Sie übersetzt ihm interlinear Jan Skácel, Miroslav Holub und Vladimír Holan, Ludvík und Milan Kundera. Diese Übertragungen vermitteln ihm eine völlig neue Perspektive. Auch das sind Gedichte aus einem sozialistischen Land, aber aus ihnen sprechen Sichtweisen, auch in der politischen Selbstverortung, wie er es aus der DDR nicht kennt. Reiner Kunze beginnt nachzudichten:
Milan Kundera (geb. 1929)
DICHTER SEIN HEISST
bis ans ende gehen
Ans ende der zweifel
ans ende des hoffens
ans ende der leidenschaft
ans ende des verzweifelns
Dann erst zusammenzählen
Eher nicht Eher nicht
Sonst kann’s geschehen
die summe des lebens
kommt dir lächerlich klein heraus
Und du taumelst wie ein kind
ewig nur im kleinen einmaleins
Dichter sein heißt
immer bis ans ende gehen 37
Dieser Kundera spricht Kunze aus der Seele. Durch Elisabeths Übertragungen entdeckt er in der Entlegenheit Böhmens und Mährens sein ureigenstes lyrisches Naturell. Das Nachdichten gewinnt für ihn einen ganz eigenen Reiz. „Es gibt Dichter“, wird er später Karl Dedecius zitieren, „die selbst Hervorragendes geschaffen haben, aber niemals imstande waren, nicht einmal für einen Augenblick, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Stil, aus der eigenen Vorstellung zu schlüpfen. Solchen Dichtern gelingen in der Regel Übersetzungen nicht.“ 38
So ein Dichter ist er nicht. Sein Ehrgeiz ist geweckt. Er hat keine Schwierigkeiten, sich vom eigenen Stil zu lösen, ganz in das fremde Gedicht hineinzulauschen, es abzuklopfen auf Harmonien und Brüche, auf Wortspiele, korrespondierende Bilder, auf Doppelbödigkeiten. Wo immer möglich, sucht er den Dichter in seiner eigenen Welt auf, um ihm zuzuhören, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Zugute kommt ihm, er ist ein Arbeiter am genauen Wort bis zu dessen Perfektion, dazu versehen mit einem sicheren Sprachgefühl.
So entdeckt er auch sehr bald, welche sinnliche Vielfalt in der tschechischen Sprache und in ihrer Poesie liegt. Zugleich erkennt er ihre Grenzen in der Abstraktion. Eine Symbiose aus der Sinnlichkeit der tschechischen Sprache und dem Bedeutungsreichtum der deutschen Sprache erscheint ihm verführerisch genug, um sich in die tschechische Sprache zu vertiefen. Er will nichts Geringeres, als die Vorzüge beider Sprachen in Nachdichtungen und in der eigenen Dichtung zusammenführen.
Nachdichten heißt für Reiner Kunze, im anderen das Eigene schaffen, und das Andere zugleich bewahren. In einer seiner Münchener Poetik-Vorlesungen 1988/89 formuliert er es so: „Nachdichten heißt, dasselbe zu schaffen, das ein anderes ist, ein Eigenes, das ein Fremdes bleiben muß.“ 39Und mit der ihm eigenen Bescheidenheit fügt er hinzu: „Nachdichten und einander den eigenen Vers hinschenken – das ist der Internationalismus der Dichter.“ 40
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