Liebe –
Jahre vom Leben.
„Mohr … Vater Mohr“ –
So riefen ihn zärtlich die Kinder.
Er hat sie geküsst und hat sie geherzt;
Denn so war seine Art.
Er sang ihnen Lieder
Und hatte ein prächtiges Lachen im Bart –
Und das Glück, er hat’s uns gegeben,
Glück –
Das sind Jahre vom Leben.
„Mohr … Freund Mohr“
So sagte sein treuer Genosse zu ihm.
Ihre Freundschaft, die schönste,
Die jemals gewachsen,
Die gab ihm die Kraft,
Und so hat er unbändigen Willens geschafft –
Und hat uns die Siege gegeben,
Siege –
Sein ganzes Leben.
„Mohr … unser Mohr“ –
Für sich
Nahm er nur seine Sorgen –
Und dachte die Sonne
In unseren Morgen. 29
Reiner Kunze sagt mit Blick auf dieses Gedicht:
Ich lese den Text, geschrieben Anfang der fünfziger Jahre, heute mit Scham und Entsetzen. Er ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Unter Hitler haben wir Gedichte auswendig lernen müssen wie dieses:
Mein Führer, sieh, wir wissen um die Stunden,
in denen du hart an der Bürde trägst –
in denen du auf unsere tiefen Wunden
die liebevollen Vaterhände legst
und noch nicht weißt: wie wirst du uns gesunden.
(…)
Darum ist unsere Liebe auch so groß,
darum bist du der Anfang und das Ende –
Wir glauben dir, treu und bedingungslos,
und unser Werk des Geistes und der Hände
ist die Gestaltung unseres Dankes bloß.
Anfang der Fünfziger Jahre wurden uns in den Vorlesungen Gedichte gepriesen wie Johannes R. Bechers „Danksagung“ an Stalin:
In seinen Werken reicht er uns die Hand.
Band reiht an Band sich in den Bibliotheken,
Und nieder blickt sein Bildnis von der Wand.
Auch in dem fernsten Dorf ist er zugegen.
(…)
In Dresden sucht er auf die Galerie,
Und alle Bilder sich vor ihm verneigen.
Die Farbtöne leuchten schön wie nie
Und tanzen einen bunten Lebensreigen.
(…)
Dort wirst du, Stalin; stehn in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
Und winkt zu sich ein scheues Reh.
(…)
Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke,
Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn
Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke
Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.
Da stand der Bergarbeitersohn, dem in der Oberschule Namen wie Franz Kafka nie zu Ohren gekommen waren, mitten im politischen Kitsch.
Das Gedicht der „Mohr“ ist ein Spiegel seiner Zeit und des manipulierten Denkens. Karl Marx’ Theorie ging im doppelten Wortsinn um als Gespenst in Europa. Dabei war vor den zu erwartenden Folgen – der Zerstörung selbst liberalkapitalistischer Strukturen – durch linke Intellektuelle wie Georges Sorẹl bereits Ende des 19. Jahrhunderts unüberhörbar gewarnt worden. Spätestens jedoch mit Wolfgang Leonhards Die Revolution entlässt ihre Kinder und kurz darauf mit Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU konnte man auch in der DDR das zerstörerische Potenzial dieser Lehre ahnen.
Bei Reiner Kunze setzt 1956 ein Umdenken ein. Doch noch Jahre später, schon in Greiz, wird ein Genosse der SED-Kreisleitung ihn auf sein Gedicht „MOHR“ ansprechen und fragen, warum er nicht mehr Gedichte dieser Art schreibe. Er antwortet, dieses Gedicht sei eines seiner schlechtesten. 30Und aus heutiger Distanz sagt er:
Von mir gibt es frühe Texte, die zu meiner Biografie, aber nicht zur Literatur gehören. Damals war ich gewiss ein politischer Autor, denn ich hatte geglaubt zu wissen, wie man die Welt verändern kann. 31
Und plötzlich sendet der Rundfunk Gedichte, mit denen er die Erwartungen an ihn als politischen Dichter unterläuft. Schlimmer noch, er unterläuft den gerade zwei Monate zuvor beschlossenen Bitterfelder Weg, den Konsens der Staatskünstler, in ihren Werken primär die Arbeitswelt und die Erfolge des Sozialismus darzustellen und zu preisen. Stattdessen veröffentlicht er Gedichte, die der Liebe und Erotik huldigen.
Kommt er, dann werben
Lippen und Arme,
bis er gegangen,
und aus den Brüsten
drängen die derben
Hände
das Blut in die Wangen.
(…)
Die Liebe
ist eine wilde Rose in uns,
unerforschbar vom Verstand
und ihm nicht untertan.
Aber der Verstand
ist ein Messer in uns.
Der Verstand
ist ein Messer in uns,
zu schneiden der Rose
durch tausend Zweige
einen Himmel. 32
Für spätere Veröffentlichungen streicht er die ersten sieben Verse und das Gedicht wird unter dem Titel „Die Liebe“ eines seiner dauerhaft gültigen. Seinen Gegnern sind die gesendeten Gedichte eine Ungeheuerlichkeit. Die Parteiorganisation der Fakultät schaltet den Parteisekretär des Staatlichen Rundfunkkomitees ein und verlangt, die Kultredakteure zu maßregeln. Gegen Reiner Kunze wird am 9. Juni 1959 ein Parteiverfahren eröffnet. Der Vorwurf: Beteiligung an konterrevolutionären Aktivitäten und parteischädigendes Verhalten. Als er zu seiner Entlastung zwei Zeugen befragen lassen will, soll es Klaus Höpcke gewesen sein, der vom Präsidium aus dazwischenfährt: „Wir sind hier nicht in einer bürgerlichen Gerichtsversammlung, wo man Zeugen aufrufen kann.“
Es gab eine große Versammlung, die dauerte sieben Stunden, bis Mitternacht. Mir wurde vorgehalten: „Wer solche Gedichte schreibt, kann keine sozialistischen Studenten erziehen.“ – „Mit solchen Gedichten lenkt Kunze von den wesentlichen Aufgaben des Sozialismus ab.“ Das war der Hauptvorwurf. Ich solle mich an Gedichten von Mao Tsetung orientieren: „Das sind auch Liebesgedichte, aber die haben einen Klassenstandpunkt.“ Mir wurde gesagt, entweder ich nehme selbstkritisch Stellung und bekenne, was mir vorgeworfen wird, dann werde die Partei beraten und es wäre nicht unbedingt die Trennung, oder … Daraufhin habe ich gesagt: „Ich distanziere mich nicht von meinen Gedichten.“ Das hat genügt. Das Ergebnis dieses Tribunals ist eine einstimmige Parteirüge wegen „parteifeindlichen Verhaltens, das zu schädlichen Auswirkungen in Lehre und Erziehung der Studenten führte“. 33Eine Rüge ist die zweithöchste Strafe vor dem Parteiausschluss. Dieses Mal geht der Dekan auf Kunzes Kündigung ein. Gleichzeitig hält er noch einmal seine Hand über ihn. Er unterschreibt nicht die Kündigung, sondern einen Aufhebungsvertrag.
In der Vergangenheit hatte der Dekan sich auch gegenüber der Staatssicherheit schützend vor seinen Assistenten gestellt. Jetzt verdichten die Mitarbeiter des MfS das gesammelte Material und eröffnen im Januar 1960 einen „Vorlauf Operativ“, eine Überwachung unter dem Decknamen „Reporter“ 34Zwei Inoffizielle Mitarbeiter und eine „Quelle“ im Schriftstellerverband werden auf ihn angesetzt, verstärkte Überwachung erfolgt zur Leipziger Messe. Geklärt werden soll, ob er über Kontakte in die Bundesrepublik verfügt, dort veröffentlicht und ob er weiter „revisionistische Theorien“ verbreitet. Als die operative Bearbeitung in Leipzig anlaufen soll, ist er schon nicht mehr dort, sondern in Berlin. Im März 1961 wird die Akte geschlossen, die Begründung: Eine „direkte Feindtätigkeit“ wurde nicht festgestellt.
Seine Universitätslaufbahn ist im Juni 1959 beendet. Das Credo dieser Jahre fasst er in Epigramme wie dieses:
Dialektik
Unwissende damit ihr
unwissend bleibt
werden wir euch
schulen 35
Die nächsten Monate montiert er als Hilfsschlosser Achsen für Schreitbagger im VEB Schwermaschinenbau Leipzig. Nachts schreibt er, bis er gesundheitlich dazu nicht mehr in der Lage ist. Er hält weiter Kontakt mit Schriftstellerkollegen. Erwin Strittmatters Fürsprache ermöglicht es ihm, Nachwuchsschriftsteller in Berlin auszubilden. Das verschafft ihm eine Grundsicherung.
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