Die Weihe floss ruhig dahin. Die nach dem letzten Hochwasser aufgeschütteten Dämme zeigten noch immer erst spärlichen Bewuchs zum Wasser hin. Georg folgte dem Verlauf des Flusses. Zwei Achter zerhackten mit zackigen Kommandos die Luft, als sie gegen den Strom an ihm vorüberrauschten. Eine Zille glitt still neben ihm her und schob gurgelnd ihre Bugwellen an den Fuß des Dammes. Ihr folgte mit leisem Tuckern eine weitere, auf deren Achterdeck Pfeife rauchend ein glatzköpfiger Mann am Steuer stand. Eine Frau hängte Wäsche auf die Leine, die von seinem Ruderstuhl bis achtern gespannt war. Auch eine Form, sein Fernweh zu stillen, dachte Georg, immer auf dem Wasser, von Basel nach Dordrecht oder von Riesa nach Hamburg oder von Passau nach Bratislava. Er stellte sich dieses scheinbar zwanglose Schippern auf Europas Wasserstraßen romantisch vor, obwohl die Beschwernisse des Schifferalltags nicht außerhalb seines Vorstellungsvermögens lagen. Natürlich würde es Lade- und Löschtermine geben, Frachtbriefe und anderen Bürokram, nervige Enge in der Kajüte, falls es eine solche überhaupt gäbe, schlechte Sicht bei Nebel und Regen, unruhige Nächte und Gefahren bei Flussengen, Niedrigwasser oder Eisgang. Aber der Blick vom Wasser auf die Landschaften müsste all das aufwiegen, Auen und Weinberge, Felsen und Burgen, Stadtbilder und unberührte Natur. Ganz noch in Gedanken hob er die Hand und winkte. Niemand winkte zurück. In der Ferne sah er Hemden auf einer unsichtbaren Leine flattern.
Solche Gedanken sind ihm nicht neu.
Er sitzt auf den Elbwiesen, den Blick zur Hofkirche und Brühlschen Terrasse gewandt, das Japanische Palais im Rücken. Die Sonne senkt sich eben über Friedrichstadt, als ihn mit dunklen, schweren Schlägen das Geläut der Kreuzkirche erfasst. Die vertraute Fremdheit der bronzenen Klänge bannt ihn an seinen Platz. Mit geringfügiger Verspätung gesellen sich die Glocken der Kathedrale hinzu, andere fallen ein; und als die Dreikönigskirche in seinem Rücken ihr Lied anstimmt, bebt sein Herz, und seine Arme, mit denen er die angewinkelten Beine umschließt, vibrieren. Muss dieses Tosen in den Lüften nicht auch einen Atheisten ergreifen, denkt er und weiß zugleich, dass im Rathaus darüber beraten wird, wie man das Kirchengeläut untersagen könne. Angeblich liegen hinreichend Beschwerden von Werktätigen vor, die sich dadurch gestört fühlen, weil sie in Schichten arbeiten oder Glockengeläut für ein Relikt aus Zeiten religiöser Volksverdummung halten.
In dem Moment tuckert eine Zille vorüber. Ein Mann auf Deck hält die Hände an die Ohren, als wolle er diese bombastische Begrüßung in sich speichern und mit nach Hamburg nehmen. Nimm mich mit in den Westen , ruft Georg: Nimm mich mit!
Er kann ihn nicht hören. Und es ist gut, dass auch kein anderer Georgs Ruf verstehen kann.
Polternd trieb eben ein rostiges Fass flussabwärts, schlug auf die Steine am Ufer, riss sich wieder los und krachte wenige Meter weiter erneut aufs Gestein. Georg stellte sich vor, eine Hand reckte sich aus dem Fass zum Ufer und eine knorrige Stimme riefe: Boätheite! Boätheite! Dann erschiene das greise Haupt des Diogenes am Tonnenrand und ängstliche Augen suchten den Horizont nach Hilfe ab. Und Georg würde hinzuspringen und rufen: Erchomai! Erchomai! Dann wäre sein Griechisch auch schon bald am Ende.
Er schaute noch einmal zum Fluss hinab. Das Fass war kopflos weiter getrieben. In der Ferne glaubte er die Türme von St. Severin in Nahstedt zu sehen. Er nahm den nächsten Weg zurück zur Stadtmitte und lief, wie er erst jetzt bemerkte, direkt auf den Dom zu. Schon von Weitem sah er die Markisen der Marktstände. Und noch etwas erkannte er, das ihn Schlimmstes befürchten ließ. Wenn er jetzt nicht in eine Seitengasse auswiche, geriete er direkt in die Falle. Eine dichte Menschenmauer verriet, neben dem Markttreiben würde auch Straßentheater anzutreffen sein. Georg liebte Straßentheater in jedweder Gestalt seit Kindertagen. Aber diese Liebe hatte sich in den letzten Jahren zu einer verhängnisvollen Wechselbeziehung entwickelt. Jedes Mal, wenn er sich in den Kreis der Zuschauer einreihte, wurde ausgerechnet er in die Mitte gezerrt und zum Mitspiel genötigt. Die ersten Male fand er das noch amüsant, doch der kleine Kitzel verlor sich bald.
In Münchens Neuhauser Straße zum Beispiel muss er einem Wildfremden seine Umhängetasche anvertrauen, um, zusammen mit einer Zuschauerin, an einer kleinen Kriminalkomödie teilzunehmen, die ein muskulöser, schrill schreiender Amerikaner vorgibt. Auf seine knappen Anweisungen hin soll zuerst die Frau ihn, dann Georg sie und schließlich der Amerikaner Georg erschießen. Das Lustige daran ist weniger das Spiel als die Art, die einzelnen Schritte – amerikanisch-englisch natürlich – zu kommentieren. Die Lachsalven aus dem Publikum verraten ihm, der nur die Hälfte versteht, das Spiel kommt an – und – im Westen ist Englisch keine wirkliche Fremdsprache mehr. Am Ende jedenfalls liegen alle drei ohne zu atmen auf dem Asphalt, bis sie der Applaus wieder zu Leben erweckt. Georg freut sich über Münchens sprichwörtliche Sauberkeit; denn er trägt seine neue Hose und das neue Jackett erst den zweiten Tag. Und die Konferenz, die er heimlich besuchen will, beginnt erst morgen. Offiziell befindet er sich zum 75. Geburtstag seiner Tante Vero in Westberlin. Ein andermal muss er, in die Mitte gerufen, einem Jongleur, der auf seinem Einrad mit ständigem Vorwärts- und Rückwärtstreten sein Gleichgewicht zu halten sucht, erst zwei, dann eine dritte, dann eine vierte Keule zuwerfen. Dass Georg, als dieser ihm abschließend die Keulen zurückwirft, nicht eine einzige fängt, soll der allgemeinen Belustigung dienen, auf seine Kosten, wie er findet. Eine Frau in der ersten Reihe, in der einen Hand eine Bratwurst, in der anderen einen Bierbecher, lacht so laut und hässlich, dass sich Georg noch einmal bückt und ihr eine Keule zuwirft. Verblüfft, wie sie ist, lässt sie ihre Wurst und ihren Becher fallen, um die Keule zu fassen, was ihr ebenso wenig gelingt. Lächelnd bahnt sich Georg einen Weg durch die Zuschauer.
Nach dem Vorfall in Hamburg hält er sich bedeckt. Georg befindet sich auf einer Städtereise durch Norddeutschland, wie sie in den Neunzigern häufig angeboten werden. Mit einem Lehrerehepaar aus Stendal, das im Bus hinter ihm sitzt, kommt er in diesen Tagen viel ins Gespräch. In Hamburg schlendert er mit Urte und Karsten, so heißen sie, durch die Stadt. Dabei erzählt er ihnen von seinem Missgeschick mit Straßentheater. Belustigt und etwas ungläubig hören sie ihm zu, während sie zum Rathaus gelangen. Auf dem Vorplatz hat ein Jongleur mit diversen Utensilien eine kreisrunde Fläche markiert, um die sich ein Menschengürtel bildet. Alles starrt gebannt auf den jungen Mann, der, auf dem Einrad sitzend und mit den Beinen strampelnd, diesmal rote Bälle in die Luft wirft. Kaum sind sie herangetreten, hören sie eine krächzende Stimme: He, Sie, Sie da! Der Zeigefinger des Jongleurs richtet sich auf Georg. Kommen Sie doch bitte hier in den Kreis. Ich brauche einen tapferen Mann, der mir jetzt meine Fackeln zuwirft . Georg schaut flehentlich zu Karsten und bittet ihn statt seiner in die Mitte zu treten. Der aber lehnt ab. Da blickt Georg auf seine Uhr und ruft zurück: Tut mir leid, ich muss weiter . Die drei drehen ab und schlagen sich in eine Nebenstraße. Georg wischt sich den Schweiß von der Stirn. Unglaublich , sagt Urte. Der hatte genau wieder dich auf dem Kieker. Georg antwortet: Allmählich macht mir das Angst.
Georg verspürte eine unwiderstehliche Neugier in sich und trat von hinten an die Menschenmenge heran. Als er sah, dass es sich um fünf Frauen handelte, die in farbenprächtigen Leggins und eng anliegendem Regenbogendress artistische Figuren bildeten, sich ineinander verknoteten und wieder lösten, eine Brücke übereinander bauten und sich dabei gegeneinander drehten und schließlich einen Turm bildeten, bei dem die oberste einen Handstand auf den Schultern der mittleren vollführte, schlängelte er sich beruhigt in die zweite Reihe, um besser sehen zu können. Die Frauen lösten ihren Turm auf, die oberen sprangen zu Boden, alle fünf stellten sich nebeneinander auf und verneigten sich artig. Kaum war der Applaus verebbt, hörte er eine Frauenstimme: Junger Mann, würden Sie bitte einmal herkommen?
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