Sie schweigt. Dann sagt sie: Mag sein, dass du recht hast. Der Gedanke an eine Wiedervereinigung wurde ja vor allem von den Konservativen hochgehalten. An eine Realisierung hat weder von denen noch von der SPD einer geglaubt, fürchte ich. Aber Kurt Schumacher!
Ja, mein Gott, wann war das? Und was die Schwestern und Brüder angeht, sei mal ganz vorsichtig. In deiner Firma, ich meine in der Kirche, verbergen sich unter dieser familiären Floskel ja auch allerhand Unbarmherzigkeiten. Oder?
Jetzt schweigt er und denkt, wie recht sie hat.
Georg verließ sein Bett und goss sich ein Glas Wasser ein. Der Platz zwischen Bahnhof und Hotel lag in einem milchigen Licht, die Glaskörper der Laternen umgab ein neblig gelber Hof. Ein Taxi lag vor dem Bahnhofseingang auf Lauer. Sonst kein Mensch weit und breit. Georg legte sich wieder hin.
In die kurze Zeit ihrer Zuneigung fällt auch die Einladung des Bundespräsidenten zum letzten Sommerfest in Bonn. Georg fragt Katharina, ob sie mitkommen wolle. Na klar , sagt sie, an deiner Seite immer . Sie ahnt noch nicht, wie kurz dieses immer währen wird. Es ist ein warmer Sommerabend, als sie sich in die Schlange einreihen, die eine Schleuse zum Garten der Villa Hammerschmidt passieren muss. Man zeigt die Einladung, die zwei Damen mit einer Anmeldungsliste vergleichen, wird einer kleinen optischen Inspektion unterzogen und befindet sich in einem weiträumigen Gelände, das mit Bühnen und Partyzelten, Freiluftcafés und Ruheplätzen reichlich ausgestattet ist. Sie bleiben eng beieinander, um in dem unerwarteten Menschengewühl nicht verloren zu gehen. Je weiter sie aber in den Park hinein gelangen, desto mehr lichtet sich das Gelände von Besuchern. Er glaubt noch immer, der Bundespräsident werde sein Fest persönlich eröffnen, mit einer launigen Rede vielleicht, begleitet von einer musikalischen Darbietung, wenigstens mit einem persönlichen Willkommensgruß. Aber nichts dergleichen. Irgendwann bemerken sie, dass die Gäste sich bereits Tische und Bänke gesucht haben, um sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Sie stellen sich an einem Tresen an, lassen sich Kassler und Sauerkraut (Katharina: Kassler!) auffüllen und nehmen zwischen anderen sommerlich-festlich gekleideten Damen und Herren Platz. Es ist nicht schwer zu erraten, woher die meisten stammen. Ihr rheinischer Tonfall verrät, der bisherige Dienstort des Bundespräsidenten muss überproportional vertreten sein. Eine Weile hören sie schweigend dem Gespräch der anderen zu, die sich offenbar kennen.
Man wertet soeben mit vollem Mund und unter heftigem Geproste die deutsche Vereinigung aus. Wenn man gewusst hätte, was das alles kosten würde, hätte man besser Abstand davon genommen. Die Mauer habe doch auch ihr Gutes gehabt. Es habe einem ja an nichts gefehlt. An den Ostdeutschen am allerwenigsten, wirft ein molliger Typ ein, der gewiss als Ministerialdirigent oder so etwas seine Brötchen verdient.
Die Bemerkung löst Heiterkeit aus und stachelt offenbar zu weiteren Eskapaden an. Die kleinen Honeckers kämen ja jetzt alle her und wollten ihr Stück vom großen Kuchen. Hätten sie mal den eigenen nicht so lange anbrennen lassen. Lachen.
Man sieht ja, was die Ostdeutschen, die der Alte in die Politik gehievt hat, zuwege gebracht haben! Lachen. Ortleb, Pohl, de Maizière! Lachen. Und dann Krause! Lautes Lachen. Und sein Ziehkind Merkel!
Vorsicht, Vorsicht, die werden wir so schnell nicht wieder los, sagt einer in das Gelächter hinein. Für einen Moment ebbt das Lachen ab.
Also ich kenn auch einen , bemerkt einer der Herren, der mal eine Klasse übersprungen hat. Aber der war einfach gut in der Schule. Die Zonis wollen gleich vom KZ ins Paradies. Jetzt hält es Georg nicht länger. Entschuldigung , mischt er sich ein, ich bin auch so ein Zoni, lediglich dass ich nicht aus dem KZ komme und auch nicht ins Paradies geraten bin.
Katharina stößt ihn mit dem Knie an. Der Mollige funkelt ihn an, steht auf und holt sich neues Essen, andere schließen sich ihm an, kehren aber nicht an den Tisch zurück. Zwei Damen reagieren bestürzt. Nein, so sei das natürlich nicht gemeint gewesen. Sie wüssten schon, dass es auch im Osten anständige und fleißige Leute gäbe. Aber sie hätten doch den Eindruck, dass der Anschluss den Westen überfordere. Immerhin habe die Bundesrepublik auch ihre Probleme.
Zu der wir inzwischen seit einigen Jahren dazugehören, wirft Georg ein.
Natürlich, ja. Wo kommen Sie denn her.
Er nennt den Namen seiner Stadt.
Ach, das ist ja interessant. Liegt die nicht irgendwo im Norden?
Er bejaht und hat den Eindruck, beide Damen freuen sich ihrer vorzüglichen Geografiekenntnisse.
Dann entschuldigen sie sich, sie müssten leider noch an einer anderen Stelle des Parks Freunde abpassen. Die anderen folgen ihnen.
So ist das, wenn man mit der Tür ins Haus fällt , sagt Katharina, am Ende sitzt man alleine da.
Siehst du, und so ist das, wenn man sich alles gefallen lässt , sagt er, am Ende sitzt man alleine da . Er steht auf und lässt sie allein am Tisch zurück.
Nach wenigen Metern hat sie ihn wieder eingeholt und hängt sich an seinen Arm.
Mann, warum bist du nur so empfindlich?
Frau, warum bist du nur so unempfindlich , antwortet er. Damit ist das Thema abgetan.
Politiker, deren Namen sie aus der Zeitung, deren Gesicht sie aus dem Fernsehen kennen, laufen ihnen über den Weg, der Finanzminister und der Umweltminister, Parteivorsitzende und Fraktionssprecher, daneben Moderatoren und Schauspieler. Alles, was man so Persönlichkeiten nennt, scheint an diesem Abend Ausgang zu haben.
An einer Wegbiegung stoßen sie auf Petkau und seine Frau. Georg kennt beide aus oppositionellen Gruppen, die sich in den Achtzigerjahren innerhalb der Kirche gesammelt haben. Petkau ist ein ideenreicher und streitbarer Kopf, der vor Enthusiasmus schnell erglühen kann, aber ebenso schnell erkaltet. Was Georg an Spontaneität fehlt, fehlt Petkau an Kontinuität. Von daher hätten sich beide gut ergänzen können, aber eine Rivalität, die gelegentlich aufblitzt, treibt sie mit der Zeit auseinander.
Katharina kennt Petkau aus dem Herbst 89, wo sie ihn einmal interviewt hat. Als sie sich jetzt gegenüberstehen, entspinnt sich zwischen den beiden ein Dialog, der so auf Petkau zugeschnitten ist, dass sich Georg schnell überflüssig vorkommt. Ein einziges Mal versucht er sich einzumischen, wird aber von ihr barsch zum Schweigen gebracht, sodass er sich unbemerkt entfernt.
Viel später, es ist schon lange dunkel, findet sie ihn mehr zufällig im Kreis einer Gruppe Friedensbewegter aus DDR-Zeiten. Sie setzt sich leise dazu und tastet nach seiner Hand. Er tut, als bemerke er sie nicht. Nach einer Weile gibt er dem stillen Werben nach, rückt näher an sie heran und erklärt seinen Kollegen: Das ist Katharina .
Nachts im Hotelzimmer werden sie sich schnell wieder einig.
Habe ich eigentlich ihre Briefe noch? Er überlegte, wo er sie aufbewahrt haben könnte. Zwei, drei Monate lang gingen nahezu täglich Briefe hin und her.
Katharina tut etwas, was er zuvor noch nicht erlebt hat und was er selber nicht zu können glaubt: Sie liefert sich ihm aus. Binnen weniger Wochen erfährt er mehr über sie, als er je von sich preiszugeben bereit wäre. Sie gewährt ihm Einblicke in ihr Seelenleben, lässt ihn teilhaben an ihren Selbstzweifeln und vertraut ihm manches an, was Frauen üblicherweise nur Frauen mitteilen.
Georg freut sich zunächst über so viel Offenheit und versucht, seinerseits, sich vorsichtig zu öffnen, erzählt von seinen Ängsten und seiner Schwermut, gesteht auch einmal Irrtümer ein, die er früher nie zugegeben hätte. Aber sobald sie darauf eingeht, zieht er sich sofort wieder zurück, als handle es sich um ein Missverständnis. Er weiß nicht, was von ihm bleibt, wenn sich das Bild, das sich andere von ihm machen sollen, langsam auflöst. Er fürchtet eine Blöße, die an düstere Kindheitserlebnisse erinnert.
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