Georg schaute in die Runde und gewann den Eindruck, er habe Grenzland betreten. Carlo überspielte die plötzliche Stille mit einem Themenwechsel: Du bist jetzt Lehrer, habe ich gehört?
Auch das ist Vergangenheit, sagte Georg. Ein paar Jahre habe ich mich mit Religion und Philosophie an einem Privatgymnasium durchgeschlagen. Inzwischen leite ich die Landesstelle für Dokumentation, Information und Erforschung von Widerstand und Opposition in den drei Nordbezirken der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, kurz LIEWO .
Sag bloß, warf Carlo ein. So etwas gibt es? Der Name ist ja fast so unaussprechlich wie die offizielle Bezeichnung der sogenannten Gauck-Behörde.
Georg nickte: Mit der arbeiten wir zwangsläufig auch eng zusammen.
Und was macht ihr da so, wollte Carlo wissen.
Das ist eine längere Geschichte, sagte Georg. Als ich den Auftrag erhielt, mit zwei Mitarbeiterinnen und mit bescheidensten Mitteln eine solche Stelle aufzubauen, saßen wir in einem kleinen Büro, besaßen drei Schreibtische, einen Computer und drei leere Wandregale und fingen an, Dokumente zu sammeln.
Das heißt? Carlo zeigte sich ehrlich interessiert.
Die Programme und Aufrufe der Bürgerbewegungen zum Beispiel oder Protokolle der Sprecherräte und Fachgruppen. Ebenso alle Dokumente von Friedens- und Umweltgruppen aus den frühen Achtzigerjahren, darunter auch Flugblätter, Offene Briefe und interne Informationen. Später haben wir die Sammlung auch auf alles ausgedehnt, was uns an Samisdat in die Finger kam, im Ormig-Verfahren vervielfältigte Gedichte und Texte, Satirisches und investigative Dokumente, vor allem zu ökologischen Fragen. Aber auch die Plakate und Transparente der Demonstranten aus dem Herbst 89 befinden sich bei uns. Inzwischen gehören auch Materialien der 1989 sich wandelnden alten Parteien sowie der neuen, also SDP und DSU zu unserem Bestand.
Die Männer am Tisch horchten auf.
Haben die denn alles freiwillig rausgerückt, meldete sich einer aus dem Kreis zu Wort, ein blasser Mittdreißiger mit Stoppelhaaren und Schnauzbart.
Werner Bächlein, stellte ihn Carlo vor, einer unserer jungen Wilden aus der SPD-Fraktion. Ich könnte mir vorstellen, fuhr der fort, dass sich manche schwer damit getan haben.
Georg berichtete von den Schwierigkeiten, auf die er dabei gestoßen war. Die einen hatten ein Privatarchiv angelegt und hüteten es wie ihren Augapfel. Andere gaben an, alles aus dieser Zeit in Kartons verstaut zu haben, an die sie in nächster Zeit nicht herankämen. Viele hatten alles, was an jene Zeit erinnerte, längst geschreddert. Es gab auch solche, die Geld dafür haben wollten. Nach einer Aufbauphase von zwei Jahren sei aber doch eine beachtliche Sammlung zustande gekommen, die seitdem ständig nach hinten erweitert werde, bis in die frühen Fünfzigerjahre hinein. Inzwischen fülle allein das Archiv Herbst 89 einen ganzen Raum, andere Räume der zu einem stattlichen Institut angewachsenen Landesstelle beherbergten Dokumente zum 17. Juni 1953 im Norden der DDR, Materialien zum Thema kirchlicher Widerstand, zu Streiks in volkseigenen Betrieben, Papiere aus den Arbeitskreisen der ehemaligen Bausoldaten und Totalverweigerer, Reaktionen auf den Prager Frühling und den Einmarsch 1968, auf die KSZE-Tagung in Helsinki, Papiere zur Ausreisebewegung und vieles mehr.
Und was machen Sie mit all den Dokumenten – Alfred Heidenreich, unterbrach ihn Carlo mit einem Seitenblick zu Georg, CDU-Fraktion, wie du ja inzwischen mitgekriegt hast –, gehören die nicht eher in Ihr Landesarchiv?
Irgendwann werden sie dort eingegliedert werden, antwortete Georg. Die Landesstelle ist eine temporäre Einrichtung. Unsere jetzige Aufgabe ist es, möglichst lückenlos den Widerstand in den ehemaligen Nordbezirken zu dokumentieren, die Öffentlichkeit darüber zu informieren – für mich heißt das vor allem viel Vortragsarbeit – und den Medien sowie der Zeitgeschichtsforschung die Materialien zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus arbeiten wir mit uns bekannten Privatarchiven zusammen und vermitteln Kontakte für Doktoranden. Carlo wollte wissen, ob Georg denn auch mit Stasi-Unterlagen zu tun habe.
Das sei Angelegenheit der Gauck-Behörde, erklärte Georg, die die Stasi-Archive verwalte und für die gesetzlichen Zwecke aufbereite. Es komme aber vor, dass Betroffene Kopien ihrer eingesehenen Unterlagen der Landesstelle zur Verfügung stellen. Dann würden diese in einer gesonderten Abteilung aufbewahrt.
Wozu das? Einer aus der Männerrunde, ein korpulenter, gemütvoller Typ, der das Gespräch bisher interessiert verfolgt hatte und immer vor sich hin lächelte, vermochte darin keinen Sinn zu sehen.
Georg berichtete, die Landesstelle könne etwas, was die Gauck-Behörde nach ihrem gesetzlichen Auftrag nicht leisten könne, sie führe und protokolliere Gespräche sowohl mit Betroffenen, die unter staatlicher Repression gelitten haben, als auch mit ehemaligen Parteifunktionären und hauptamtlichen Stasimitarbeitern, soweit die dazu bereit seien. Auf diese Weise sichere sie eine Fülle von Insiderwissen und Spezialkenntnissen, die der Zeitgeschichtsforschung zugutekämen. Gelegentlich komme es sogar vor, dass sich Opfer und Täter, er sage lieber Betroffene und Verantwortliche, im Beisein seiner Mitarbeiter zu einer Gegenüberstellung bzw. zum Gespräch bereitfänden. Er hoffe, auf diese Weise könne die Landesstelle einen kleinen Beitrag zur innergesellschaftlichen Versöhnung leisten, auch wenn das nicht ihr Hauptzweck sei.
Heidenreich nahm noch einmal das Wort und erklärte, nach seiner unmaßgeblichen Meinung würde es langsam Zeit, nach vorn zu blicken und diese DDR-Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Es gebe so viele Gegenwartsprobleme, die alle Kraft und Ressourcen erforderten, dass man sich so viel Rückwärtsgewandtheit bald nicht mehr leisten könne, zumal sie unnötig Steuergelder verschlinge.
Damit entfachte er einen heftigen Wortwechsel, bei dem bald nicht mehr auseinanderzuhalten war, wer welche Meinung vertrat, weil einer dem anderen ins Wort fiel. Georg, der solche Auffassungen kannte, hörte von Verantwortung der SED-Funktionäre reden, von Unrecht, das benannt werden müsse und von Unrecht, dass auch heute geschehe, von Untersuchungshaftanstalten der Stasi und von der verschleppten Aufarbeitung der Nazizeit. – Bei uns gibt es auch Geheimdienste, hörte er einen sagen. – Denk mal an Guillaume und Willy Brandt, gab einer zurück. – Warst du mal in Hohenschönhausen? – Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. – Absolute Freiheit gibt es so wenig wie völlige Gerechtigkeit. – Alles muss einmal ein Ende haben.
Stichworte prallten an Georgs Ohren: IMs … verdeckte Ermittler … Stolpe … Bautzen … KGB … Putin … Schröder … Gazprom … Mossad … Vatikan … OSA …
Forelle, die Herren, sagte der Wirt und ließ eine Platte nach der anderen von seinem Arm auf den Tisch gleiten. Eine weitere Ladung Forelle folgte.
Guten Appetit die Herren. Noch Getränke gewünscht?
Und während der Wirt mit der Bestellung abzog, breitete sich genüssliches Schmatzen aus. Egon, bring mal zwei Teller für die Knochen, rief Carlo. Der Wirt brachte zwei fischförmige Grätenteller und stellte erneut je eine Flasche weißen und roten Wein auf den Tisch.
Als das Gespräch wieder anhob, ging es um die bevorstehende Stadtvertretersitzung und den Umgang mit der Linken. Georg lehnte sich zurück, genoss den fruchtigen Wein und beobachtete die Gestik der Männer. Ab und an wandte sich Carlo zu ihm und fragte etwas. Wie geht’s deiner Frau? Was macht Bernhard? Bist du demnächst wieder mal hier? Wir sollten mal einen Abend ausmachen, wo wir Zeit füreinander haben, so wie damals.
Es mochte zehn sein, als Carlo unvermittelt aufsprang und sagte: Meine Herren, die Sitzung ist beendet.
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