Den nächsten Tag fahren sie an die Ostsee und verbringen, nach seiner Erinnerung, den ganzen Tag am Strand, nahe des Gelben Moors. Früher galt der Platz als Geheimtipp für FKK-Bader, so geheim, dass sich die Reihe der hinter den Dünen lückenlos geparkten Autos über zwei Kilometer links und rechts des Schotterweges erstreckte. Nach dem Ende der DDR sorgt ein rühriger Stadtrat für konsequente Renaturierung im hinteren Strandbereich. Kein Auto kommt hier mehr hin. Stattdessen breiten sich über die Jahre hinweg wieder seltene Gräser und Sumpfpflanzen aus, sogar Orchideen sollen wieder zu finden sein. Der Anweg, der nun zu Fuß zurückgelegt werden muss, scheint den meisten Strandbesuchern zu beschwerlich. Während sich das Badevolk an anderen Stränden um zwei Quadratmeter Sand streitet, treffen sich am Gelben Moor nur vereinzelte Naturliebhaber und Tagesausflügler.
Sie sind allein am Strand – und es gibt den ersten Streit. Sie hat am Wasser einen Stein gefunden, den sie ihm überreicht.
Ist der nicht schön?
Na ja , sagt er, es geht, eigentlich nichts Besonderes.
Objektiv mag er recht haben. Diese Art Steine gibt es nahezu wie Sand am Meer, nur dass ihrer halt etwas größer ausfällt. Dass seine Besonderheit darin besteht, ihn von ihr geschenkt zu bekommen, versteht er nicht. Das kränkt sie. Ihm fällt ein, er hat ja noch nicht einmal ihr Geschenk ausgepackt, das sie ihm bei der Fahrt in seine Wohnung in die Hand drückte. Ein Gefühl von Scham meldet sich, das er nicht zulassen will und schnell wieder hinunterschluckt. Sie geht ein Stück allein hinter den Dünen entlang und bleibt lange für ihn unsichtbar. Als sie zurückkehrt, ist er eingeschlafen. Ihr Schatten weckt ihn auf.
Bist du öfter so ein Kotzbrocken , fragt sie.
Ja , sagt er. Und bist du öfter so schnell eingeschnappt?
Ja , sagt sie.
Einen Streit könnte man das eigentlich nicht nennen, wenn sich in den nächsten Wochen diese Szenen nicht wiederholten.
Nach dieser ersten Unstimmigkeit bewegen sie sich schnell wieder aufeinander zu. Friedlich, als wäre nichts geschehen, sitzen sie wenig später beieinander, essen ihren Picknickkorb leer, trinken Rotwein unter wolkenlosem Sommerhimmel und lieben sich. Später liegt sie schlafend und der Sonne abgewandt auf der Seite. Er sitzt hinter ihr im Sand und hält ihre Umrisse mit Zeichenkohle in einem Block fest, den er, außer seinem Notizbuch, manchmal bei sich führt. Was für ein Körper! Diese Frau möchte er in allen Lagen und Stellungen zeichnen.
Die Tage setzen sich auf ähnliche Weise fort. Theater und eine Bootsfahrt auf dem nahe gelegenen Brookensee, eine Wanderung in der Brookener Heide und ein Besuch des Klosters Melchen, ein Ausflug nach Litzenburg, das sie in Mecklenburg vermutet, obgleich es in Vorpommern liegt. Und immer wieder gibt es diese kleinen Störfeuer durch Unachtsamkeit. Die Kränkungen gehen jetzt tiefer, die Kommentare werden bissiger. Dazwischen Gespräche über Literatur und Politik, bei denen sie sich so nahe glauben, dass für Momente alles andere nebensächlich wird. Sie hat an ihr Geschenk nicht mehr gedacht. Er schnürt es am letzten Tag auf und findet in dem Papier eine Packung Sushi, die sich in den warmen Tagen zu einem stinkigen Brei verwandelt hat.
Eine lange Woche endet mit einem nötigen Abschied.
In den nächsten Monaten besuchen sie sich gegenseitig und telefonieren fast täglich miteinander.
Als er das erste Mal zu ihr kommt, findet er in der Tat eine Wohnung vor, die für einen Ordnungsfanatiker wie ihn eine Lebensaufgabe böte. Nicht weniger Zeit und Einsatz würde ihr kleiner Garten beanspruchen, wollte man diesen wieder begehbar oder gar genießbar machen. Nur ihre Küche lässt eine gewisse Grundordnung erkennen. Das tröstet ihn. Aber der nächste Streit lauert schon hinter den Türen ihrer Vorratsschränke. Als er nämlich den Frühstückstisch decken will, findet er fünf verschiedene Mischungen von Müsli vor, mit Dinkel und Gerstenflocken und Amaranth, dazu Trockenobst und jede Menge Kräutertees. Der Kühlschrank ergänzt die Tafel mit Bio-Joghurt, Ziegenkäse und Sojamilch. Statt Kirsch- oder Erdbeermarmelade stößt er auf Quittenmus mit Ingwer. Eier, Wurst und Schinken – Fehlanzeige. Seine hinterhältige Nachfrage, ob er auf einen Kaffee in ein Lokal gehen müsse, quittiert sie noch mit einem nachsichtigen Lächeln.
Als er aber sagt: Ihr Grünen ernährt euch wohl nur noch wie die Hühner, statt von Hühnern , wird sie scharf.
Und ihr Ossis habt euern Demokratiemangel wohl vierzig Jahre lang mit Schweinefleisch kompensiert? Das war doch das Einzige, wofür ihr vor 1989 mal auf die Straße gegangen seid, oder?
Frau Doktor haben Politik studiert, gibt er zurück. Dann müssten Frau Doktor wissen, dass es am 17. Juni 1953 nicht um Schweinefleisch, sondern um erhöhte Normen, mehr Demokratie und Abzug der Russen ging. Im Übrigen ist für Fleisch in der DDR niemand auf die Straße gegangen. Allerdings hat es immer mal Unruhe in den Betrieben gegeben, wenn über längere Zeit nur Dauerwurst im Angebot war oder im Gemüseladen nichts als Weiß- und Rotkohl.
Aber als euch der Bohnenkaffee gestrichen wurde, da gab’s doch ordentlich Zoff , wendet sie ein.
Das stimmt allerdings , sagt er. Zwar haben sie sich nicht getraut, den Bohnenkaffee gänzlich abzuschaffen. Aber die unerträgliche Mixtur aus Bohnenkaffee und Ersatzkaffee (bei uns sprach man von 50 Prozent Kaffeesatz mit 50 Prozent Kaffeeersatz) hat tatsächlich Massenproteste ausgelöst. Und wenn ich bei dir jetzt ebenfalls nur irgend so ein Surrogat angeboten bekomme, gehe auch ich auf die Straße bzw. über die Straße in die nächste Kneipe, eingeschnappte Wessifrau.
Sie kommt auf ihn zu, lacht und küsst ihn.
Ihr Ossis seid einfach zu blöd, in einer wohlgeordneten Küche einen Espressoautomaten zu erkennen. Espresso ist übrigens viel gesünder als dein Filterkaffee.
Warum sagst du das nicht gleich? Für einen Espresso lasse ich mich auch auf dein Hühnerfutter ein , brummt er und stellt die Biobutter, den Biohonig und das Bioerdnussmus auf den Tisch.
Aber Vegetarier seid ihr doch wohl alle , muss er sie noch einmal kitzeln.
Nein , schreit sie, sind wir nicht, ich jedenfalls nicht. Bei mir gibt es meistens Schinken – Biorinderschinken , unterbricht er sie.
– nein, Schweineschinken, luftgetrocknet. Aber der ist alle, verstehst du? Und die Eier auch. Später ist er es, der die Wessi-Ossi-Masche bedient. Sie unterhalten sich über die allgemeine Stimmung in der letzten Phase der DDR.
Hast du eigentlich irgendwann unter der Mangelwirtschaft eures Systems gelitten , fragt sie ihn.
Nein , antwortet er wahrheitsgemäß. Wir hatten zwar nie viel Geld und hätten es uns nie leisten können, die allgemeinen Versorgungsmängel über einen Einkauf in Delikat- und Exquisitläden auszugleichen. Aber wir hatten immer Westverbindungen. Kaffee z. B. haben wir nie kaufen müssen. Außerdem erhielten wir als kirchliche Mitarbeiter jährlich eine bestimmte Summe Westgeld, über die wir frei verfügen konnten .
Hat das euer Wirtschaftsboss – wie hieß er doch gleich? Stoph?
Mittag!
Mittag hieß der? Na gut, hat das der Mittag denn geduldet?
Also zum einen war der wahrscheinlich froh, dass eine ganze Menge Leute Westverbindungen hatte, weil das die DDR-Wirtschaft erheblich entlastete und manchmal auch kräftig Devisen ins Land schwemmte, über Genex und Intershop und so. Zum anderen, Frau Doktor, scheint mir das typisch Wessi zu sein, dass ihr nicht mal die Namen der Hauptgangster kennt, weil euch die DDR nicht wirklich interessiert hat. Bei euch wurde nur immer gefaselt von Wiedervereinigung und Schwestern und Brüdern im Osten. In Wahrheit ging euch der Alltag im Osten doch am Allerwertesten vorbei. Wenn du bei uns durchschnittlich gebildete Leute gefragt hättest, wer in der Bundesrepublik gerade Postminister ist, sie hätten es gewusst.
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