1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Georg seufzte in sich hinein. Wie viele mögen in diesen 40 Jahren der Selbstisolation von der Welt da draußen geträumt haben? Oder wäre es leichter zu fragen: wer nicht? Träumten nicht auch die, die von der bösen Welt jenseits der Grenzen sprachen und dieses manchmal lächerliche Ländchen bis aufs Blut verteidigen zu wollen vorgaben, träumten nicht auch sie manchmal von eben dieser verbotenen Welt und bissen im Traum, der ja der Kontrolle des Bewusstseins entzogen war, in die Frucht vom Baum der Erkenntnis, die ihnen von einer nackten Frau gereicht wurde, um dann schweißgebadet zu erwachen und einen Tag mit eingezogenem Schwanz herumzulaufen in der stillen Hoffnung, diese Untat würde den Göttern ihres kleinen Paradieses und seinen Racheengeln entgangen sein?
Er wollte nicht nur von Reisen träumen können, er wollte reisen können. Zum Beispiel mit dem Zug durch Europa, was heute ein Genuss wäre. Damals konnte Zug fahren eine Strafe sein. Aber nicht das Reisen um jeden Preis – heute würde man sagen für jeden Preis – glaubte er einfordern zu müssen, sondern die Freiheit dazu. Allein das Reisen können würde vielen den Alltag in der DDR, über den die herrschende Partei ihre Ideologie wie das Netz eines Vogelstellers gebreitet hatte, das sie mehr und mehr zusammenzog, erträglicher machen. So blieb dem Gros der Sehnsüchtigen, die das letzte Risiko nicht eingehen wollten, nur die tägliche virtuelle Flucht in den Westen, seitdem der Empfang der gegnerischen Fernsehsender toleriert wurde.
Georg schaute auf und lächelte. Der Zug raste erneut durch ein Regengebiet. Das Wasser klatschte an die Scheiben und verwischte jede noch so dürftige Aussicht.
Wer sollte da nicht vom Mittelmeer träumen, seufzte er in sich hinein.
Aber da war noch etwas anderes, das ihn seit seiner ersten Westreise nach dem Mauerbau nicht mehr losgelassen hatte. Es war die Erfahrung der Außenansicht.
1981 kommt er ins Gespräch mit einem Dozenten der Technischen Universität in Dresden, der gerade von einem Kongress in Kopenhagen zurückgekehrt ist und sagt, jetzt könne er verstehen, warum die DDR-Führung die Leute nicht in westliche Länder fahren lasse. Keiner würde wiederkommen.
Wieso , fragt Georg zurück, Sie sind doch auch wiedergekommen?
Ja gut, sagt er, bei ihm sei das etwas anderes, er habe Familie und einen tollen Beruf und Haus und Garten.
Und Georg erwidert: Jeder hat etwas, das er nicht gern aufgeben würde. Die meisten haben Familie, Eltern oder Kinder, die sie nicht im Stich lassen wollen, oder gute Freunde, Sportkameraden oder Chorsänger, ihre Arbeitsstelle mitsamt den Kollegen und eine Wohnung, die sie sich nach ihrem Geschmack und von ihrem eigenen Vermögen eingerichtet haben. So etwas gibt man doch nicht einfach auf. Wer weiß, dass er jederzeit wieder reisen darf, kommt auch wieder zurück . Im Übrigen habe er in Belgien hinter all dem Glanz und Reichtum auch mitbekommen, wie manche Menschen um ihre Existenz kämpfen müssten. In einer grenzfreien Welt könne ja jeder selber entscheiden, ob er der Grundsicherung in der DDR den Vorzug geben wolle zu dem Preis von Mangelwirtschaft und geistiger Enge oder der westlichen Freiheit zum Preis sozialer Unsicherheit. Er glaube, die meisten kämen wieder. Der Dozent schüttelt heftig mit dem Kopf und zeiht ihn töricht und naiv. Wenn die DDR das zuließe, wäre sie bald nicht mehr die DDR.
Na und , sagt Georg.
Da bricht sein Gegenüber das Gespräch ab.
Das Lästige beim Reisen sind die Reisenden selber, beschloss er für sich, als er eben erneut von einem Rucksack getroffen wurde.
Danke, sagte Georg, Sie könnten etwas umsichtiger mit Ihrem Gepäck umgehen.
Der junge Mann wandte sich um: Sorry, tut mir leid.
Georg sah in zwei freundliche, unschuldige Kinderaugen in einem bärtigen Gesicht.
Während, nach kurzem Halt irgendwo, der Zug wieder anfuhr, schlief Georg ein.
Eine braunlederne Umhängetasche locker über die Schulter geworfen, betritt er in seinem schwarzen Cordanzug mit den Jeansknöpfen, schüchtern und neugierig zugleich, den Raum, in dem bereits die Tagungsteilnehmer und -teilnehmerinnen versammelt sind. Alle sind rot gekleidet, rote Hosen, rote Röcke, rote Sakkos, rote Blusen, rote Krawatten, rote Socken, rote Schuhe. Und alle schauen ihn an als wollten sie sagen, hier gehörst du nicht her. Einer ruft: Ist das der Heini aus der DDR! Georg geht unsicher zum Podium und erklärt der Tagungsleiterin – roter Pullover, rote Jeans, rote Socken, rote Hackenschuhe – sein Zug habe Verspätung gehabt. Sie wendet sich um und schaut ihm direkt ins Gesicht . Ach, du bist das , sagt sie und schüttelt den Kopf, wobei ihre sorgfältig gelegten Locken durcheinandergewirbelt werden. Ihre grünen Augen und ihr spöttischer roter Mund dagegen sagen etwas anderes, das er wie eine geheimnisvolle Einladung empfindet. Plötzlich verwandelt sich ihr Gesicht. Eine Frau mit chinesischen Gesichtszügen schaut ihn durchdringend an, die eben noch blonden Locken sind zu kurzen, strähnigen, pechschwarzen Fransen mutiert. Mit einem riesigen Pinsel tupft sie fremde Schriftzeichen auf ein Papier, reicht es ihm und sagt etwas, das wie Ming Xiahung klingt, es könnte aber auch Mao Zedong oder Deng Xiaoping heißen. Die Tür springt auf, und zwei chinesische Polizisten fragen ihn in unverfälschtem Sächsisch, ob er der Vogel aus der DDR sei. Als er bejaht, legen sie ihm Handschellen an und zerren ihn aus dem Raum. Im Hintergrund hört er die Tagungsteilnehmer begeistert auf die Tische trommeln. Draußen vor der Tür spricht der eine Polizist chinesisch, der andere übersetzt für ihn, und diesmal akzentfrei hochdeutsch, sie hätten den Auftrag, sein Herz der Parteiführung zu überbringen, aber es müsse noch warm sein und schlagen. Gäbe er ihnen die 100 D-Mark seiner Tante und die 100 der Oberin vom Krankenhaus dazu, würden sie ihn laufen lassen und ein Katzenherz abliefern. Er fasst in seine Innentaschen, findet aber nur Papiertaschentücher vor. Auch in seinen Hosentaschen – nichts als Papiertaschentücher. Bleiben noch die Außentaschen der Jeansjacke, und auch da nichts als Papiertaschentücher. Er will laut aufschreien: Das kann nicht sein, man hat mich bestohlen …!
Er wachte auf, mit der rechten Hand in der Innentasche seiner Lederjacke kramend.
Suchen Sie etwas, fragte lächelnd die Krümelfrau über den Gang hinweg.
Ja, das heißt nein, das heißt doch, ich …
Sie müssen geträumt haben, sagte die Frau. Und eben haben Sie wie wild alle Ihre Taschen durchsucht, als ob Ihnen etwas verloren gegangen wäre. Blöder Traum?
Blöder Traum, bestätigte er, während er in der anderen Innentasche sein Portemonnaie fand, herauszog und prüfte, ob seine EC-Karte noch vorhanden sei. Lächelnd steckte er es zurück, schüttelte den Kopf und sagte zu ihr hinüber noch einmal: Wirklich, ein blöder Traum.
Ein elektronisches Klangzeichen, dem Gongschlag im Kino nicht unähnlich, kündigte eine Lautsprecheransage an. In wenigen Minuten erreiche der Zug den Bahnhof, den Georg als Zielbahnhof gelöst hatte. Man bedanke sich für das Vertrauen in die Deutsche Bahn, hoffe, alle seien mit dem Begleitservice zufrieden gewesen, man wünsche einen guten Aufenthalt und freue sich, wenn die Deutsche Bahn die Reisenden, die jetzt den Zug verließen, demnächst erneut an Bord begrüßen dürfe.
Georg grinste. Dieses Eisenbahntheater gab es damals bei uns nicht. Der mangelnde Komfort der Züge hätte es auch kaum gerechtfertigt. Aber von A nach B kam man auch ohne Zugbegleitservice , ohne den Reisesegen der Deutschen Bahn und ohne Anleihe aus dem Seefahrtsvokabular. Und wenn es sich um einen D-Zug handelte, konnte es damals sogar vorkommen, man fand einen respektablen Speisewagen vor mit einer Küche, in der noch richtig gekocht wurde.
Читать дальше