1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Er lächelt. Sie sind Abiturientinnen und haben noch nie etwas von Schwerin gehört? Es liegt gar nicht so weit von Hamburg weg. Dazwischen allerdings befindet sich eine scharfe Grenze. Ach in der Zone , bemerkt eine andere enttäuscht.
Zum Glück bleiben weitere Fragen nach Reisegrund und Reiseerlaubnis aus.
Georg gönnt sich einen Seitenblick in die offene Handtasche seiner Nachbarin. Wie immer, konstatiert er, Lippenstift, Taschentücher, Zigaretten, Portemonnaie, ein Stift … Er hätte Lust, darin zu kramen. Schon als Kind hat er die Taschen von zu Besuch weilenden Tanten mit Begeisterung durchstöbert. Meist fand sich etwas Außergewöhnliches, ein Talisman, ein besonderer Anhänger, Fotos, Papiere mit bedeutungsvollen oder geheimnisvollen Schriftzeichen, kleine Süßigkeiten, manchmal auch etwas, dessen Entdeckung peinliche Zwischenfälle ausgelöst hat.
Georg horchte auf. Er erkannte die leicht verfremdete Stimme des Schaffners wieder, die die bevorstehende Ankunft auf dem Hauptbahnhof der nächsten Stadt bekannt gab.
Als der Zug in die weite Halle einfuhr und die Türen geöffnet wurden, plärrten unverständliche Lautsprecheransagen in den Wagen hinein. Der Laptopmann von gegenüber hatte blitzschnell sein Gerät in einer Tasche verstaut und befand sich, während er sich mit einem Arm in seinen Mantel zwängte, bereits im Gang. Andere Insassen des Wagens drängten sich an den Ausgängen und schoben einander nach und nach auf den Bahnsteig. Neue Fahrgäste stiegen zu. Ein junger Mann mit Rucksack und einer schweren Tasche quetschte sich, nach links und rechts schauend und die Ziffern der Sitzplätze prüfend, an ihm vorbei, nicht ohne ihm in einer heftigen Wendung das Untergestell seines Rucksacks an den Kopf zu schlagen.
Danke auch , sagte Georg.
Sorry , hörte er es hinter sich.
Die Krümelfrau, jetzt Alleinerbin eines Viererabteils, begann sich auszubreiten. Sie legte ihr Buch ab, stellte eine Wasserflasche auf die Tischplatte und zerrte aus ihrer Tasche einen Spiralblock mit Kästchenpapier und einen dicken Kugelschreiber. Sie schaute zu ihm hinüber, lächelte zufrieden und begann mit ruhiger Hand, Seite um Seite vollzuschreiben.
Damals, inmitten dieses gackernden Harems, war an Schreiben nicht zu denken.
Aber dann, noch bevor der Zug in den Brüsseler Central-Bahnhof einfährt, stehen die Damen aus Köln in ihren Mänteln, die Frisuren gerichtet und das Handgepäck geschultert, im Gang. Nur die Seegrasmatratze schaut noch einmal ins Abteil zurück und hebt die Hand, ehe alle aus dem Zug stürzen und sich, auf dem Bahnsteig angekommen, in die Arme fallen, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen.
Georg weiß, der Zug fährt nicht weiter. Er nimmt sich Zeit, seine Sachen zusammenzusuchen. Die Apfelsinenschalen von Tante Veros Obstbeutel verschwinden im Behälter neben dem kleinen Klapptisch, der Collin in der Seitentasche seines Reiseköfferchens. Er schlingt seinen Schal um den Hals, fährt in seinen Mantel, setzt seine Mütze auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und schnappt sein Gepäck. Als er auf dem Bahnsteig steht, ist weit und breit kein Mensch zu sehen.
Reisen. Georg begann zu grübeln. Warum verlässt jemand den Ort, wo er alles zum Leben Nötige hat: ein Bett, in dem er gut schlafen kann, eine Küche, in der er sich zurechtfindet, ein Fenster, wo irgendwann am Tag die Sonne verweilt, den Ort, wo ihm Musik und Bücher griffbereit zur Verfügung stehen? Warum begibt sich jemand woandershin, wo es vielleicht viel zu heiß ist oder dauernd regnet, wo es viel zu laut zugeht, auch noch in fremder Sprache, wo man ein zu kurzes Bett vorfindet, seltsame Speisen verzehren muss und wo die Sehnsucht nach dem Vertrauten stündlich steigt?
Reise ich eigentlich aus Neugier? Oder ist es eher eine Sucht, die mich von Zeit zu Zeit die Koffer packen lässt?
Ariane spottete manchmal schon, es sei wohl wieder so weit, dass er Abstand suchen müsse. Vielleicht auch ein Reflex, nach vierzig Jahren Reiseeinschränkung, wobei ich ja schon zu denen gehöre, die bereits vor dem Mauerfall eine Ahnung von der Welt hinter der Grenze bekamen.
Mauerfall? Inzwischen zum irreführenden Terminus technicus wie Wende geworden. Als ob es sich um eine alte, brüchige Mauer gehandelt habe und nicht um eine tödlich-gefährliche Betonwand, mit Stacheldraht und Panzersperren und Hundelauf und Wachtürmen und Scheinwerfern und schießbereiten Patrouillen … So etwas fällt nicht einfach ein. Wenn es da nicht innerhalb des ummauerten Gebietes einen Aufstand gegeben hätte! Wollen Begriffe wie Mauerfall und Wende vergessen machen, dass wir eingesperrt waren und dass wir selber etwas für unsere Befreiung getan haben?
Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Da waren sich die propagandistisch geschulten SED-Funktionäre und der Verfasser des 37. Psalms einmal einig. Der Harz sei doch auch sehr schön, und man wandere dort auf den Spuren bedeutender Vordenker der sozialistischen Gesellschaft . Dass Goethe, Heine und viele andere den ganzen Harz bereisen, auf den Brocken wandern, Goslar und Bad Harzburg, was später zum Westen gehörte, besuchen konnten, blieb unerwähnt. Nein, wir hätten doch genug Abwechslung und Naturschönheiten im eigenen Lande: das Vogtland mit seiner hügeligen Weite, die Lausitz mit Bieleboh und Czorneboh, den Spreewald, der über Wasserstraßen verfüge wie Venedig, die Mecklenburger Seenplatte mit ihren Zeltplätzen, die Ostsee von Boltenhagen bis Usedom und den Fernsehturm in Berlin. Solle man das doch alles erst einmal richtig kennenlernen, ehe man in die Ferne strebe. Wer seine Heimat nicht kennt, ist überall ein Fremder.
Er erinnerte sich, manche getroffen zu haben, die das plausibel fanden.
Die alte Frau von Neuendorf auf Hiddensee fiel ihm ein, die der Pfarrer einmal gefragt hatte, ob sie denn in ihren 85 Jahren auch einmal verreist sei. Ja, hatte sie geantwortet, einmal. Und wo waren Sie da, wollte er wissen. In Kloster, sagte sie, dem keine acht Kilometer entfernten Dorf im Norden der Insel.
Wollten sie uns nicht so haben, so bedürfnislos? War es nicht gerade das, was ihn immer gestört und empört hatte? Dieser sogenannte Arbeiter- und Bauernstaat war zu einer Insel in der Brandung feindlicher Mächte geschrumpft, zu denen spätestens seit 1980 auch Polen zu gehören schien, ab 1985 sogar die Sowjetunion. Bewegte man sich innerhalb dieses abgegrenzten Gebietes, und das möglichst vorschriftsmäßig, konnte man seinen kleinen Freiraum zur Welt erklären. Die Inselmentalität steckte an und entwickelte eine Art Schicksalsgemeinschaft: wir gegen die böse Welt. (Es gab Leute, die, obwohl sie nicht in der Partei waren, allen Ernstes behaupteten, Wojtyla sei einzig und allein zum Papst gewählt worden, damit er den Kommunismus besiege und Gorbatschow sei ein Lakai des amerikanischen Imperialismus und römischen Klerikalismus. Das klang nach Propagandafloskeln wie Volk ohne Raum oder jüdisch-bolschewistische Verschwörung , mit denen die Nazis gesunden Menschenverstand infizierten.)
Warum bin ich auf diese Art Propaganda nie hereingefallen, fragte sich Georg. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit bemächtigte sich seiner, nicht in einer Funktionärsfamilie aufgewachsen zu sein, sondern in einem Elternhaus, das eine weltbürgerliche Prägung besaß, wo außer den Grenzen des Anstands und der – allerdings nicht sehr weitherzig verstandenen – Zehn Gebote keine Grenzen Gültigkeit zu haben schienen, geistige schon gar nicht. Vielleicht, sagte er sich, bin ich auch durch die Chorreisen auf den Geschmack grenzüberschreitender Bedürfnisse gekommen.
Da hieß es irgendwann einmal, zurzeit werde eine Konzertreise nach Spanien vorbereitet. Madrid, Sevilla, Cordoba, Granada, Zaragoza, Barcelona waren Städte, mit denen er Bilder aus dem vielbändigen Lexikon seines Vaters verband. Nächtelang träumte er sich durch die großen Städte am Mittelmeer und im Landesinneren, durchstreifte endlose Apfelsinenhaine, besuchte den Prado und die Alhambra und erweckte zum Leben, was er gelesen hatte – bis zu dem grausamen Erwachen, als das ganze Vorhaben am Veto der ausschlaggebenden Genehmigungs- bzw. Verhinderungsbehörde der DDR scheiterte. Die Furcht, ein Teil der älteren Chormitglieder könnte sich unmittelbar vor der Rückreise heimlich absetzen, hatte wohl den Ausschlag gegeben. Etwas aber blieb zurück in ihm, ein sanft gewecktes Sehnen nach Süden und Sonne und Exotik, was alles zusammen Freiheit hieß, und nach grenzenloser Kunst, ein Sehnen, das nie mehr verschwinden sollte, das in seinem Unbewussten ankerte und sein Traumleben immer wieder kaleidoskopartig beflügelte – bis er 1980 zum ersten Mal das Mittelmeer sah, und das gleich sechs Stunden lang.
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