Semmler, verblüfft, dass er schon wieder nicht mehr beachtet wurde, räusperte sich hörbar und meldete sich nochmals zu Wort: „Was meinen Sie mit ‚Hexen‘ und ‚die Geschicke der Stadt führen‘? Dass die Reste einer Hexe in Heinrichs Grab liegen, heißt doch nicht, dass sie die Stadt regiert hat. Man hat die Gebeine lediglich verwechselt. Eigentlich müsste man jetzt weiter nach dem Grab des deutschen Königs suchen.“
„Wie Sie meinen.“ Der Professor wirkte nun doch leicht überheblich. Der Stadtführer war ihm ab jetzt offensichtlich egal.
Torben versuchte zu vermitteln und gleichzeitig vom Thema abzulenken: „Herr Semmler, manchmal hat Professor Meinert eben verrückte Ideen.“ Er lachte gekünstelt. „Was mich vielmehr interessieren würde – wo Sie doch so gut in der Geschichte Quedlinburgs bewandert sind – fällt Ihnen etwas Besonderes im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dieser Kirche hier oder der Stadt ein? Irgendetwas, was vielleicht – sagen wir einmal – ungewöhnlich ist?“
„Ich weiß nicht.“ Der Stadtführer war anscheinend für Torbens Schmeichelei anfällig und überlegte. „Quedlinburg wurde fast kampflos von den US-Amerikanern eingenommen. – Gott sei Dank muss man an dieser Stelle sagen, nur dadurch wurde die Altstadt, die Sie heute noch bewundern können, nicht zerstört.“
„Wieso kampflos?“ Levitt schaltete sich ins Gespräch ein. Alles Militärische schien ihn besonders zu interessieren.
„Ganz einfach, Quedlinburg war quasi eine Lazarettstadt. In dutzenden Villen, Sporthallen und Kirchen wurden in Notlazaretten seit 1943 Verwundete versorgt. Zeitweilig waren es an die achttausend Personen. Schon mit Hinblick auf das Schicksal der Verletzten war ein verbissener Verteidigungskampf nicht möglich.“
„Sie sprechen von Tausenden Menschen. Für so viele Patienten war doch auch zusätzliches Pflegepersonal notwendig, nicht wahr?“, fragte Julia.
„Natürlich“, antwortete Semmler, „die Ärzte und vor allem Krankenschwestern kamen aus ganz Deutschland.“
Torben blickte wieder zum Professor und sagte nur „Bad Mergentheim“. Sein Freund nickte.
„Bitte, was meinten Sie?“ Semmler schaute Torben an.
„Ach, nichts Besonderes. – Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Reden Sie ruhig weiter.“
Der Stadtführer versuchte, den letzten Gedanken wieder aufzunehmen und erzählte: „Das Aufregendste am Kriegsende war der Verlust unseres Domschatzes und Jahrzehnte später seine glückliche Rückkehr!“
„Ich kenne die Geschichte. Sie ging schon vor zwanzig Jahren durch die Medien und wird regelmäßig aufgewärmt. Jeder Archäologe träumt von solch einem Fund“, bemerkte Annabell.
Leicht flapsig erwiderte Torben darauf: „Okay, kann mich trotzdem mal jemand aufklären?“
„St. Servatius verfügt über einen der bekanntesten und kostbarsten Kirchenschätze des Mittelalters, Reliquien gefertigt aus Gold, Edelsteinen und Elfenbein, Geschenke an das mächtige Damenstift“, erklärte Semmler und behielt bei seinen Ausführungen den Professor im Auge. „Bereits 1943 hatte man den Domschatz in einen unterirdischen Stollen unter der Altenburg ausgelagert, nicht sehr weit von hier entfernt. Als die US-Amerikaner die Höhle fanden, entwendete einer ihrer Soldaten zwölf der wichtigsten Stücke und schickte sie seiner Familie per Feldpost nach Hause. Nach dem Tod des GI versuchten seine Erben Anfang der Neunzigerjahre, die Stücke auf dem internationalen Kunstmarkt zu verkaufen. Nachdem deutsche Millionen flossen und nach einem langen juristischen Tauziehen kehrte der Schatz oder zumindest der größte Teil davon, zwei Stücke blieben nämlich unauffindbar, 1993 auf seinen angestammten Platz zurück. Sie können ihn gerne in der Domschatzkammer wenige Meter von hier bewundern.“ Er streckte seinen rechten Arm nach hinten aus und wies damit in Richtung einer Ausstellung.
„Eine wirklich interessante Geschichte.“ Torbens Bemerkung war ernst gemeint. „Aber Sie erzählen sie doch sicherlich nicht ohne Grund. Ich hatte nach etwas Ungewöhnlichem gefragt, nach etwas, was die wenigsten Menschen wissen können! Wieso gerade diese Geschichte, wenn alle Medien bereits darüber berichtet haben?“
Sein Nachbohren war erfolgreich, denn Semmler nickte geheimnisvoll und sagte: „Dass der Schatz wieder auftauchte, war eine Sensation, gewiss. Das Ungewöhnliche ist jedoch, dass gerade zwei Gegenstände verschwunden blieben, von denen ich glaube, dass sie eine besondere Bedeutung haben müssen.“
„Ich versteh nicht recht, was Sie uns damit sagen wollen?“ Professor Meinert war skeptisch.
Ihr Führer jedoch blieb rätselhaft und erwiderte: „Ich kenne jemanden, dem es eher zusteht, diese Geschichte zu Ende zu erzählen. Zwar könnte ich es auch, weil ich sie schon etliche Male gehört habe, noch kann sie es aber selbst.“
„Sie?“, fragte Julia.
„Ja, meine Tante. Ihr Name ist Frieda Kern. Ich kann Sie miteinander bekannt machen, wenn Sie möchten. Allerdings“, Semmler blickte reihum, „sollten wir Ihre Gruppe wohl etwas verkleinern. Ich will nicht, dass sie sich zu sehr aufregt.“
Wie die gekreuzten blauen Schwerter belegten, war die Teetasse aus echtem Meissener Porzellan und Torben stellte sie vorsichtig – darauf bedacht, sie nicht zu zerbrechen – neben seinem aufgeschlagenen Notizbuch ab.
Obwohl er schwarzen Tee nicht mochte, hatte er es nicht übers Herz gebracht, das Angebot der alten Dame, die ihm und dem Professor gegenüber saß, auszuschlagen. Während sie Milch bevorzugte, hatte Torben das heiße Getränk mit viel Zucker für sich genießbar gemacht.
Natürlich hatten sie Semmlers Angebot sofort angenommen, seine Tante und offensichtliche Zeitzeugin der Kriegsjahre kennenzulernen. Spätestens als er erfahren hatte, dass Mathildes Quedlinburg im Zweiten Weltkrieg auch nichts anderes als ein riesiges Krankenhaus gewesen war, wusste Torben, dass die Priesterinnen die Stadt – wie Bad Mergentheim – ebenfalls dazu genutzt hatten, um erneut in einer Menge medizinischen Personals unterzutauchen. Schließlich musste es ihr innerer Antrieb gewesen sein, das Wissen anzuwenden, das sie über Jahrhunderte über das Heilen von Krankheiten und Verletzungen gesammelt und von Generation zu Generation weitergegeben hatten.
Schon der Hinweis der sterbenden Margot hatte in ihm den Verdacht aufkommen lassen, dass das Geheimnis, dem sie nachspürten, auch mit den letzten Kriegstagen in Verbindung stehen könnte. Insoweit gab es nichts Besseres, als mit jemandem zu sprechen, der diese Zeit noch selbst hautnah erlebt hatte. Semmlers Hinweis aufnehmend, hatte Torben vorgeschlagen, lediglich gemeinsam mit dem Professor dessen Tante aufzusuchen. Auch wenn zumindest Levitt sie augenscheinlich gerne begleitet hätte, kam von niemandem Widerspruch. Offenbar hatten beide in ihrer Gruppe noch immer so etwas wie ein Exklusivrecht, einen Bonus, weil sie es waren, die vor einigen Monaten zuerst die Tore zur Geschichte weit aufgestoßen hatten.
Frieda Kern erwies sich als zähe, kleingewachsene Frau, deren Lederhaut verriet, dass sie ihr ganzes Leben im Freien verbracht hatte. Das Fehlen jeglicher Fettpolster und ihr sehniger Körperbau zeigten, dass dieses Leben vermutlich mit harter körperlicher Arbeit verbunden gewesen war.
Nun lebte sie am Rande Quedlinburgs allein in einer kleinen Zweiraumwohnung, welche die Masse der Andenken an die verschiedenen Stationen ihres Lebens kaum fassen konnte. Umrahmt von Fotografien, kleinen Schnitzereien, Figuren, Muscheln und einer Vielzahl anderer billiger Souvenirs stand dabei die Schwarzweißaufnahme eines Mannes im reiferen Alter quasi im Zentrum der Erinnerungsstücke. Frieda Kern hatte ihnen bereits erzählt, dass es sich dabei um ein Foto ihres vor einigen Jahren verstorbenen Ehemannes handelte. Sie erklärte ihnen auch ihr genaues Verwandtschaftsverhältnis zu Semmler, dem Fremdenführer und Neffen der alten Dame, der sie einander vorgestellt hatte, jetzt aber wieder anderen Geschäften nachging.
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