Plötzlich lächelte Semmler wissend und sagte mit offenbar tiefer Genugtuung betont langsam zum Professor: „Was Sie da erzählen, ist falsch. So hat es sich nicht zugetragen.“
Professor Meinert zögerte: „Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht?“ Seine Verblüffung war nicht gespielt.
„Was Sie über Himmler erzählen, stimmt nicht.“ Semmler blickte in die Runde und wurde konkreter: „Na ja, die meisten Sachen sind schon richtig. Die Begebenheiten im Zusammenhang mit St. Servatius als nationalsozialistischer Weihestätte – von denen Sie sprachen – sind hinreichend belegbar, da haben Sie Recht. Altar, Kanzel und Gestühl ließ man beispielsweise aus der Kirche entfernen und den gotischen Chor“, er zeigte hinter sich, „mauerte man einfach zu. – Soweit scheint alles klar zu sein. Aber Heinrich den Ersten hat man höchstwahrscheinlich nie hier begraben!“
„Woher wollen Sie das so genau wissen?“, der Professor war skeptisch. „Die Unterlagen, die ich kenne, werfen diesbezüglich lediglich einige Fragen auf.“
„Vielleicht haben Sie die falschen Dokumente eingesehen. Denn nur von ‚Fragen aufwerfen‘ kann keine Rede mehr sein.“
„Hören Sie zu, guter Mann“, Professor Meinert war trotz der Kritik, die an ihm geübt wurde, erstaunlich verträglich, „wenn Sie etwas wissen, erzählen Sie es uns. Ich bin bei Weitem kein Laie, aber wenn ich in meinem Alter noch etwas lernen kann, bin ich immer darüber erfreut.“
Semmler bemerkte anscheinend, dass er nicht näher an eine Entschuldigung des Professors für das permanente Unterbrechen seiner Führung herankam und fing daher an, zu berichten: „Es ist offensichtlich, dass vor allem Sie beide“, er blickte Professor Meinert und seine Tochter an, „ausgesprochen gut in geschichtlichen Fragen bewandert sind. Ich für meinen Teil bin gelernter Stellmacher und habe erst vor wenigen Jahren mein Hobby zum Beruf gemacht. Mein Wissen ziehe ich also – gerade für den neueren Teil der deutschen Geschichte – aus eigenem Erleben oder den Gesprächen mit Zeitzeugen. Wussten Sie zum Beispiel, dass in Quedlinburg im Verhältnis zur Einwohnerzahl nirgendwo sonst in der DDR in der Wendezeit des Jahres 1989 mehr Menschen auf die Straße gegangen sind und für ihre Rechte demonstriert haben? – Nein? Interessant, nicht wahr? Ich sollte aber nicht abschweifen, zurück zu Heinrich dem Ersten.
Natürlich hat Himmler das angebliche Auffinden der verlorenen sterblichen Überreste des deutschen Königs propagandistisch verwertet. Warum auch nicht, allein schon der tausendste Todestag Heinrich des Ersten war quasi ein Glücksfall für das „Tausendjährige Reich“. Man widmete dem König prompt Sonderhefte, Postkarten und eine SS-Gedenkplakette. Die Entdeckung seines Leichnams machte die Geschichte quasi perfekt, zu perfekt, wie ich Ihnen jetzt berichten werde.“
Selbst die Mossad-Agenten hörten Semmler nun aufmerksam zu und Torben bemerkte, dass Julia regelrecht an seinen Lippen hing. „Die Nazis waren nicht die Ersten, die nach den sterblichen Überresten gegraben haben“, fuhr Semmler in ihrer Mitte stehend fort. „Bereits bei einer Grabung im Jahre 1756 hat man in der Ruhestätte von Königin Mathilde überzählige Knochen gefunden. Schon damals wurde vermutet, dass es die ihres Gemahls sein könnten. Himmler ließ den Sarg 1936 daher erneut öffnen und eben diese Gebeine anthropologisch untersuchen. Das Ergebnis fiel jedoch nicht wie gewünscht aus, und so wurden sie fortan lediglich als Reliquienknochen bezeichnet.
Die Suche ging also weiter und die vom Reichsinnenminister beauftragten Mitarbeiter der Abteilung Vorgeschichte standen von Anfang an bei ihrer Arbeit unter enormem Erfolgsdruck. Ein Scheitern wäre von Himmler sicherlich nicht ohne Konsequenzen für sie und ihre Karrieren, schlimmstenfalls sogar für ihre Familien hingenommen worden. Glücklicherweise und zu ihrem eigenen Erstaunen konnten sie aber alsbald verkünden, bei Grabungen im Untergrund der bislang leeren Grabstätte des Königs ein weiteres Skelett und verschiedene Grabbeigaben gefunden zu haben, die die berechtigte Vermutung zuließen, dass es Heinrich der Erste sein könnte.“
Der Professor unterbrach Semmler daraufhin: „Das sage ich doch die ganze Zeit! – Bislang erzählen Sie nichts Neues! – Ich weiß, dass jeder Wissenschaftler, der das Ergebnis damals anzweifelte und so die Nazi-Propaganda störte, mundtot gemacht wurde. Ich will Ihnen aber zu Gute halten, dass nach dem Krieg ein DDR-Forscher herausbekommen haben will, dass die Knochen viel zu jung sein sollen. Man müsste sie heute erneut und gründlich untersuchen. Vielleicht meinten Sie das vorhin mit Ihrer Bemerkung.“ Er winkte gönnerhaft ab.
Derweil schien Annabells weibliche Intuition anzuschlagen und sie sah Semmler durchdringend an. Irgendetwas schien sie misstrauisch zu machen und sie sagte: „Moment, George“, sie sprach ihren Vater bewusst mit seinem Vornamen an, um sich seiner Aufmerksamkeit sicher zu sein, „nicht so schnell! Unser Stadtführer weiß noch mehr über die Sache. Stimmt’s?“
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht nickte Semmler kurz und erklärte in Richtung des Professors: „Ihre Tochter hört genauer hin als Sie.“ Er räusperte sich kurz. „Normalerweise erzähle ich den Touristen die offizielle Version, weil alles andere zu phantastisch klingt. Für Sie mache ich aber heute eine Ausnahme. – Sie hatten Recht mit den Untersuchungen zu DDR-Zeiten. Genaugenommen war es bereits Ende der Fünfzigerjahre! Und Sie werden nie glauben, zu welchen Ergebnissen diverse anthropologische Untersuchungen und Nachforschungen in dutzenden Heimatarchiven und Kirchenbüchern kamen.“
Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er leicht theatralisch fortsetzte: „Die Gebeine, die Himmler unter großen Pomp beisetzen ließ, sind nicht nur mehrere hundert Jahre zu jung, sie stammen auch von einer … Frau.“
Torben spürte plötzlich Julias Hand auf seinem Arm.
„Und es kommt noch besser“, Semmler genoss es, endlich die ihm zustehende Wertschätzung zu erfahren, „es sind die Gebeine einer Hexe!“
Julias Händedruck wurde stärker und Torbens Blick traf sich mit dem des Professors. Beim Nicken Professor Meinerts wurde ihm klar, dass vor ihnen die Spur lag, die zu finden sie gehofft hatten. Er versuchte daher schnell, Semmler noch weitere Informationen zu entlocken: „Woher wissen Sie das mit der Hexe?“
Ihr Stadtführer zuckte mit den Schultern „Ein paar alte Aufsätze verschiedener Wissenschaftler, ein kaum bekanntes Buch eines regionalen Heimatforschers aus dem 18. Jahrhundert und diverse vergilbte Urkunden und Aufzeichnungen in den Stadtarchiven. Wenn man die Zeit hätte, alle Quellen ausführlich zu prüfen, könnte man es sicherlich mit ausreichenden Beweisen belegen. So aber müssen Sie mir im Moment in dieser Hinsicht vertrauen.“
„Aber Sie wissen, wer die Frau war?“, fragte Annabell trotzdem nach.
„Bei ihrem Namen müsste ich nochmal nachschauen. Der ist mir entfallen. Aber es war auf jeden Fall eine neunzehnjährige Magd, die unter dem Einfluss der Folter gestanden hat, eine Priesterin der schwarzen Magie zu sein, und dafür erdrosselt wurde. Weil sie vor ihrer Hinrichtung glaubhaft bereute und ihren Irrglauben widerrief, machte man sozusagen eine Ausnahme und bestattete sie trotz ihrer Verfehlungen auf heiligem Boden, allerdings möglichst nah an den Reliquien der Kirche, die eine göttliche und reinigende Macht ausstrahlen sollten. – Wahrscheinlich wurden ihre Gebeine nur deshalb zufällig bei den Ausgrabungen gefunden.
Himmler pochte derweil vehement auf einen Erfolg. Was also lag näher, als ihm ein gut erhaltenes Skelett als deutschen König zu präsentieren?“
Semmler schien für den Professor plötzlich nicht mehr interessant.
Er wandte sich Torben zu und sagte: „Es passt alles zusammen. Können Sie sich an Nordhausen erinnern, wo uns ebenfalls eine Rolandsstatue den Weg wies? Auch dort hatte Mathilde ein Stift gegründet, als ihr Heinrich der Erste die Stadt schenkte. Jetzt ist es also Quedlinburg in dem aller Voraussicht nach die Hexen im Geheimen die Geschicke der Stadt geführt haben.“
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