De Jong rechnete nicht damit, die Praxis offen vorzufinden, nahm aber auf gut Glück den Türknauf in die Hand. Die Tür war nicht verschlossen, also trat er ein. Ihn erwartete ein schlicht, aber ansprechend gehaltener Empfangstresen – helles Holz mit Glas- und Aluminiumelementen. Hohe Sprossenfenster sorgten für hereinflutendes Sonnenlicht, linker Hand befand sich der Wartebereich, geradeaus ein kleiner, in frischen Farben gehaltener Flur, der zu den beiden Therapieräumen führte – Raum zwei für Hauke Fromm, Raum drei für Dr. Gulik. Dahinter kamen nur noch eine Küche und die Toiletten.
De Jong ließ sich auf einem weichen Drehstuhl hinter dem Empfangstresen nieder. Gegenüber an der Wand hing ein abstraktes Kunstwerk, das denen glich, die er auf der Medea gesehen hatte. Hinter dem Computermonitor befand sich eine Art schwarzes Brett, auf dem mit Heftzwecken allerhand Zettel befestigt waren. Post-its und Urlaubspostkarten. Eine zeigte die Skyline einer mittelalterlichen Stadt – Greetings from Aberdeen stand darunter in einer fetten, roten Schrift. De Jong schaute sich die Rückseite an. Sie war aus dem vorletzten Sommer und stammte laut krakeliger Unterschrift von Hauke. Camilla hatte, wie eine andere Postkarte erwies, etwa vier Wochen später in Sidney geweilt. Er in den kalten Norden, sie in den heißen Süden. Vielleicht sollte ich meine Suche also nicht hier, sondern in Schottland beginnen, überlegte de Jong.
Er zog das Foto aus der Tasche. Das Porträt eines Mannes Anfang oder Mitte vierzig mit glattem Gesicht, das leicht glänzte, und einer modischen Igelfrisur. Aus dem Mundwinkel baumelte lässig eine E-Zigarette. Irgendwie nicht der Typ Therapeut, fand de Jong, er sah eher nach einem Hipster aus, der gerade irgendein Start-up anschob. Fromm hatte ein breites, leicht herablassendes Lächeln auf den Lippen und sein Blick war auf etwas gerichtet, das sich seitlich von ihm, außerhalb des Bildes, befand; jetzt erst erklärte sich das seltsame Format des Fotos: Auf der linken Seite wies es eine unregelmäßige Schnittkante auf. Jemand hatte dasjenige, auf das Hauke blickte, kurzerhand abgeschnitten. Wer? Camilla? Hatte sie geschnitten oder war sie diejenige auf dem Bild? Oder beides? De Jong konnte selbst nicht fassen, was für ein lausiger Detektiv er war, und schwang sich aus dem Stuhl.
Im Wartezimmer stieß er auf ein weiteres schwarzes Brett – hier wurden die Klienten auf Workshops, Kurse und Veranstaltungen zum Thema Paartherapie hingewiesen. Zum Beispiel auf das Freundlichkeits-Training nach C. Gulik , jeden zweiten Mittwoch im Monat, oder ein Super-Sparangebot: Pärchen-Therapie. Die Paartherapie-light zum Kennenlernen. Fünfzig Prozent Ermäßigung, jetzt anmelden! Ein bunter Flyer warb für einen Wochenendworkshop, der in der Uniklinik stattfand:
Ars belli – die Kunst des Streitens nach U. von Hengebrügge. An diesem Wochenende werden wir in die grundlegenden Streittechniken einer Zweierbeziehung eingeführt. Wir lernen, dass es gar nicht so leicht ist, einen Streit einfach so »vom Zaun zu brechen«, und werden das höchst komplexe Geschehen in seine unterschiedlichen Phasen aufgliedern und aufmerksam anschauen. In Kleingruppen werden wir anschließend unter anderem folgende Fragestellungen in Angriff nehmen: Wie gewinne ich den Konflikt, und wenn nicht, wie sieht ein Waffenstillstandsabkommen aus? Die TeilnehmerInnen erwartet ein spannendes Wochenende, aus dem sie viel für ihre eigene Lebens- und Beziehungssituation ziehen werden. (Begrenzte Teilnehmerzahl, nur Paare, rechtzeitig anmelden!)
De Jong fuhr herum, als sich plötzlich jemand hinter ihm räusperte.
Da stand eine Frau. »Wie? Ist jetzt doch offen?«, fragte sie verwundert. Die Frau war klein, dunkelhaarig und schätzungsweise Mitte vierzig. Sie trug eine dickrandige Brille, die die Augen größer aussehen ließen, als sie waren. Über die Jeans hatte sie eine Schürze mit einem Blumenmuster geschnürt.
»Wer sind Sie, bitte?«, erkundigte sich de Jong.
»Dasselbe kann ich Sie ja wohl fragen.«
»Und? Tun Sie’s?«, fragte de Jong zurück.
Sie musterte ihn, indem sie den Kopf zur Seite neigte. »Schymanski, Ludmila«, sie reichte ihm die Hand. »Ich mache hier sauber.«
»De Jong, Niklas«, sagte de Jong. »Ich bin auf der Suche nach Hauke Fromm. Haben Sie ihn zufällig gesehen?«
»Der Chef ist doch in Sachen Forschung unterwegs, oder nicht? Am besten, Sie rufen an und lassen sich von der Frau Doktor einen Termin geben.«
»Ich bin kein Patient«, sagte de Jong. »Was für eine Forschung?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Irgendwas Philosophisches.«
»Sie meinen Psychologisches?«
»Oder so. Wollen Sie einen Kaffee?«
Der Exkommissar sagte nicht nein und folgte Ludmila den Flur entlang in eine winzige Küche. Sie nahm eine Glaskanne von der Heizplatte, füllte die Kaffeemaschine mit Wasser und schaltete sie ein.
»Kennen Sie Dr. Fromm näher?«, fragte de Jong, nachdem sie eine Weile ihrem Schnarchen und Röcheln gelauscht hatten.
Sie nickte. »Bin selbst lange Patientin gewesen. Na ja, damals waren wir noch zu zweit.«
»Verstehe«, sagte de Jong. »Es nennt sich schließlich Paartherapie.«
»Genau. Aber dann hat sich mein guter Sergej von mir getrennt, wegen einer Schlampe, die eigentlich noch ein Kind war. Eine Schande. Unterhalt zahlt er auch keinen.«
»Tja, da hat das mit der Paartherapie wohl nicht so ganz geklappt.«
»Wer weiß das schon?« Sie zuckte mit den Schultern. »Immerhin haben sie mir ja die Stelle hier gegeben. So hab ich wenigstens mein Auskommen. Insofern …«
Die Kaffeemaschine hörte auf zu schnarchen. Frau Schymanski nahm zwei Tassen aus einem Hängeschrank, füllte sie mit Kaffee und reichte eine de Jong.
»Ich vermute, die Praxis läuft nicht schlecht«, sagte der Exkommissar. »Bestimmt können die beiden sich vor Klienten nicht retten.«
Ludmila pustete in ihr Heißgetränk, so dass ihre Brille beschlug. Sie beugte sich zu de Jong herüber. »Da ist es auch immer ziemlich abgegangen. Aber ich glaube, das hat die Leute angezogen. Sie fanden das spannend.«
»Abgegangen? Was meinen Sie damit?«
»Herr Doktor und Frau Doktor. Die haben es knallen lassen. Das ganze brutale Spektrum. Manchmal haben sie tagelang so getan, als würden sie sich überhaupt nicht kennen. Eisiges Schweigen zwischen ihnen. Lange Gesichter, von morgens bis abends. Und dann wieder haben sie sich auf der Toilette so laut gezofft, dass man es im ganzen Haus gehört hat. Sogar noch unten an der Bushaltestelle.«
Das hörte sich fast so an, als wären die beiden Psychologen nicht nur Kollegen, sondern auch ein Paar gewesen. »Die beiden hatten Differenzen? Welcher Art?«
Schulterzucken. »Streitereien eben. Er sagt was, dann sie, das ärgert ihn und er sagt was zurück. Immer so weiter. Immer lauter.«
»Und die Klienten haben das mitgekriegt? Wohl nicht gerade die beste Werbung.«
»Die Leute fanden es spannend. Ich sag Ihnen was: Wenn die beiden laut wurden, war es im Wartezimmer mucksmäuschenstill. Manche haben sich sogar einen Termin geholt, nur um mitzukriegen, wie es weitergeht, verstehen Sie? Wie in einer dieser Fernsehserien.«
»Dabei waren die beiden doch nur Kollegen«, vergewisserte sich de Jong. »Oder waren sie ein Paar?«
»Wollen Sie noch einen Kaffee?« Ludmila nahm ihm die Tasse aus der Hand und stellte ihn auf die Anrichte. Dann begann sie im Schrank herumzukramen. »Warten Sie, hier gab es auch irgendwo Kekse …«
De Jong sah auf die Uhr. »Tut mir leid. Ich muss in drei Minuten im Polizeipräsidium sein. Eigentlich schon in zwei.« Er winkte Ludmila zu. »Vielen Dank für den Kaffee.«
Er schritt durch den Flur in Richtung Ausgang, blieb aber noch einmal stehen, weil ihm im Vorbeigehen der Name Hauke ins Auge fiel. Auf einem computerausgedruckten Zettel, der mit Tesafilm von innen an der Glastür klebte:
Читать дальше