Mirjam Aggeler - FLEXEN

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Flex|en, das, – kein Pl.: 1. trennschleifen 2. biegen 3. Sex haben 4. das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5. die Muskeln anspannen 6. seine Muskeln zur Schau stellen 7. Flâneuserie
In 30 verschiedenen Texten mit 30 verschiedenen Perspektiven auf Städte, alle geschrieben und erlebt von Frauen*, PoC oder queeren Menschen. Texte, die beweisen, dass das Flexen, die Flâneuserie endlich ernst genommen werden muss. Die Figuren in der Anthologie streifen durch Berlin, Paris, Jakarta, Istanbul und Mumbai. Sie erzählen uns u.a. davon, wie eine Frau mit Kinderwagen die Großstadt erlebt, eine Frau eine Großdemonstration in Dresden miterlebt, wie Flanieren in Indien schon Aktivismus bedeutet, wie sich die Geschichte in den Ort einschreibt und manchmal wird die Stadt sogar selbst zur Figur.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

O, jetzt geht’s vorwärts! Gerhild Steinbuch

Friendly Fire

Katia Sophia Ditzler

Jakarta

Nadire Y. Biskin

Borderline

Mirjam Aggeler

Wenn du lächeln würdest

Deniz Ohde

Dresden – Chemnitz (drei Männer)

Anke Stelling

Brausen Schrägstrich Abspülen

An vielen Fassaden siehst du nur noch den Schimmel, diese Stadt wurde seit Jahrhunderten nicht mehr gelüftet Karin Peschka

Favoritenstraße

Luna Ali

Auf halber Strecke

Katharina Sucker

Auf die andere Seite

Özlem Özgül Dündar

Die Luders

Kamala Dubrovnik

Hausnummer 29

Anneke Lubkowitz

Alleen und Frauen

Erstmal Mund auf und raus und danach heimlich schämen Svenja Gräfen

Schritte machen

Julia Lauter

Wie man eine Stadt erobert

Bettina Wilpert

Der Himmel ist überall

Anna HetzerGedichte

flaneuses

plac zbawiciela

an der stralauer brücke

die frauen von uamdo

Leona Stahlmann

Schaumnest

Ronya Othmann

Gedichte

Gehe fluchtartig geradeaus und versuche, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen Cornelia Manikowsky

Abend im Sommer

Mia Göhring

Flirren

Leyla Bektaş

Güerita

Halina Mirja Jordan

Always Hungry

Judith Coffey

Am Bayerischen Platz

Sandra Burkhardt

Das Exterieur

die zu uns sprechen mit einem messer als zunge Andra SchwarzGedichte

Überall zuhause sein allein

Dinçer Güçyeter

Byzanz will es ohne Kondom

Lea Sauer

Eine Überlebende, Eine Zeugin, Ein Bericht

Svenja Reiner

Otis

Simoné Goldschmidt-Lechner

sur d’autres heures

Sibylla Vričić Hausmann

Feste Dinge

Interview mit Lauren Elkin

Impressum und Copyright

FLEXEN

Flâneusen* schreiben Städte

Herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer

VORWORT Die Flâneuse zusammen mit den Herausgeberinnen Flex en das - фото 1

VORWORT

Die Flâneuse* zusammen mit den Herausgeberinnen

Flex | en, das, – kein Pl.: 1.trennschleifen 2.biegen 3.Sex haben 4.das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5.die Muskeln anspannen 6.seine Muskeln zur Schau stellen 7.Flâneuserie

Ich flexe. Ich flexe mich in die Stadt, durch die Stadt. Ich flexe mir die Stadt zurecht. Flexen – das Wort mache ich. Ich gehe durch die Stadt, flaniere und flexe. Alles, was ich in den Texten dieses Buches mache, findet sich in diesem Wort wieder. Ein Wort mit vielen Bedeutungsebenen. Ich schneide mit ihm eine Kerbe in das ursprüngliche Verständnis vom Umherwandeln in Städten. Ich dehne den Begriff des Flanierens aus, so weit wie er auch faktisch ist. Mein Blick ist manchmal ins Detail verliebt, manchmal bohrend, stechend,manchmal lässig, verträumt oder sexy, manchmal schnell und hastig, langsam und besonnen. Manchmal knallhart.

Braucht man dafür ein neues Wort? Muss es wirklich das Flexen sein? Ja, muss es. Denn das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte. Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen. Oder es heißt: Gesehen werden. Oder: Vollkommen unsichtbar sein. In jedem Fall wurde meine Stimme bis heute zu selten angehört und hat zu selten die Seiten von Büchern gefüllt. Flexen heißt, mich dort zu bewegen, wo ich nicht vorgesehen bin und etwas tun zu wollen, was für mich erst einmal als etwas Ungewöhnliches gilt. Deswegen flexe ich.

Meine Präsenz ist nicht ungefährlich und einfach für mich, fraglos akzeptiert wie sie es für die traditionellen Flaneure ist. Auch darum stelle ich hier meine Kraft zur Schau, die ich brauche, um mich im öffentlichen Raum zu bewegen. Flexen, es bedeutet all das. Das Wort Flâneuseurie gibt es nicht, in keinem Wörterbuch. Mich aber gibt es. Ich bin hier. Die begriffliche Annäherung von Flexen und Flâneuserie, die ich euch auftische, ist nicht zufällig. Sie zeigt die Anstrengung und die Vielschichtigkeit, die sich hinter meinem Gehen im urbanen Raum verbirgt.

Wie werde ich gesehen, wenn ich die Wohnung verlasse, wenn ich im Supermarkt bin, in der Straßenbahn? Ich bin weder besonders auffällig, noch unauffällig. Im Vorbeigehen falle ich schnell unter den Radar der anderen Blicke. Manchmal bleiben Blicke an mir haften wie gebannt, zu oft. Ich haste nicht. Ich habe kein Ziel. Ich stolpere durch Straßen, breit und gigantisch, schmal und schattig. Mich treibt die Neugier, die Lust am Wandeln, das Alleinsein mit der Stadt. Es ist mein Raum. Er gehört mir wie er jeder Person gehört, die sich in ihm bewegt. Das passt nicht allen. Ich gerate ins Blickfeld. Ich störe. Ich habe Lust am Stören, und das kann ich schon durch meine reine Anwesenheit. Es war nicht vorgesehen, dass ich hier bin und dort. Wo ich es sein kann, wurde es von mir erkämpft. Ohne Anstrengung ging es nie. Mir wurde gesagt, es sei zu gefährlich, bleib zu Hause. Bleib drinnen, da wo es sicher ist. Nur bedeutet drinnen sein nicht gleich Sicherheit und draußen sein nicht zwangsläufig Freiheit. Aber es kann Freiheit werden, wenn ich präsent sein kann, wo ich präsent sein will, auch dort, wo niemand außer mir das möchte. Wenn ich laut sein kann oder unbemerkt gehe, auf den Asphalt spucke und alles überall, zu jeder Zeit und ohne Einschränkung tun kann. Mir ist bewusst: Das ist auch ein Privileg, das ich mir erkämpfen kann. Es gibt Dinge, die es unmöglich machen, Flâneuse* zu sein. Zum Beispiel nur in bestimmter Kleidung und in Begleitung rausgehen zu dürfen oder wenn es sich generell nicht gehört, sich Zeit dafür zu nehmen, umher zu gehen und die Umgebung anzuschauen. Das passiert hier und anderswo. Manchmal durch gesetzliche Verbote, manchmal einfach durch gesellschaftliche Konventionen. Es kann ein abfälliger Kommentar sein, wenn ich meinen liebsten Minirock trage, Beleidigungen, wenn meine Hautfarbe für einige nicht ins Stadtbild passt, ich zu männlich oder weiblich aussehe. Es können aber auch Polizeikontrollen und Strafen sein. Berührungen, ungewollte Küsse, Verfolgungen, unangenehme Blicke, die totale Ignoranz. All das hat nur eine Botschaft: So in der Stadt unterwegs zu sein – das solltest du nicht.

Mir fallen nur wenige Autor*innen ein, die über mich geschrieben haben – Virginia Woolf, Jean Rhys, George Sand, Frederika Amalia Finkelstein, Teju Cole, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich bin sicher, dass es mehr gab, aber ihre Stimmen wurden und werden von der Stimme des traditionellen Flaneurs, weiß, heterosexuell und männlich, überdeckt. Hier erhebe ich nun meine eigene Stimme und mache sie lesbar. Ich spreche nicht mit gespaltener Zunge. Meine Zunge ist von Grund auf vielstimmig.

Ich lebe in Städten. Sie sind mein Zuhause. Der urbane Raum ist mein Alltag. Ich bewege mich durch ihn wie durch mein Wohnzimmer. Ich kenne seine Ecken und Kanten, seine Kuschelorte. Ich kenne die Straßen, viel befahren, viel begangen, auch von mir. Er ist Teil meines Denkens, meiner Welt. Aber wo sind meine Perspektiven in der Literatur? Wo sind die Blicke der Frauen*, der People of Colour, der Queeren? Mir fehlt das auf Papier geschriebene Wort. Mir fehlt meine Stadterfahrung in den geschriebenen Geschichten, in den geschriebenen Figuren. Im geschriebenen Wort von Frauen*, People of Colour und queeren Menschen. Um dieses Wort auf Papier zu bringen, nachlesbar zu machen, gibt es dieses Buch mit mir und über mich. Flâneusen* schreiben Städte. Ich schreibe meinen Blick auf die Stadt und schreibe damit die Stadt neu, definiere sie neu im Geschriebenen, mache mein Erleben sichtbar. Die verschiedenen Erlebnisse, Blicke und Momente wachsen zu einem Chor an Stimmen; jede ist einzigartig und alle schreiben zusammen die Stadt.

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