1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB sind damit gegeben. B handelte demnach nicht rechtswidrig.
Klausurhinweis: Eine Erwähnung der Schuld verbietet sich nunmehr gänzlich, da eine bereits gerechtfertigte Person niemals schuldhaft handeln kann. Es kann direkt zum Ergebnis übergegangen werden.
B hat sich folglich durch das Umrennen des R nicht wegen einer Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Der kaltblütige Gangsterboss Giovanni (G) ist wütend auf seinen Handlanger Olivero (O), da dieser einen lukrativen Deal vermasselt hat. G denkt sich eine blutrünstige Bestrafung aus: Er lässt seinen Bruder Hugo (H), den er aufgrund dessen Gesetzestreue ohnehin nicht leiden kann und O beide zu sich in sein Büro kommen und bedroht beide mit einer Pistole und fordert nun H auf, O mit voller Wucht gegen den Kopf zu treten. Wenn er das nicht tue, werde er beide sofort erschießen. H sieht keine andere Möglichkeit, sein Leben zu retten, als der Forderung des G nachzukommen. Er tritt O deshalb mit dem Fuß gegen den Kopf. Er weiß, dass ein solcher Tritt tödlich sein kann. Er hofft zwar, dass O überleben werde, weiß aber, dass dies sehr unwahrscheinlich ist und findet sich angesichts seiner eigenen Lebensgefahr auch mit einem möglichen Tod des O ab. O stirbt an den Folgen des Trittes.
Prüfen Sie gutachterlich die Strafbarkeit des H. § 211 StGB ist nicht zu prüfen.
Lösungsskizze
Strafbarkeit des H nach § 212 Abs. 1 StGB?
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Handlung (+)
b) Erfolg: Tod eines Menschen (+)
c) Kausalität (+)
d) Objektive Zurechnung (+)
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (+)
II. Rechtswidrigkeit
1. Notwehr, § 32 StGB
a) Notwehrlage
aa) Angriff (+)
bb) Gegenwärtig (+)
cc) Rechtswidrig (+)
b) Notwehrhandlung
aa) Verteidigung (–)
2. Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB
a) Notstandslage
aa) Gefahr für ein Rechtsgut (+)
bb) Gegenwärtig (+)
b) Notstandshandlung
aa) Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts (+)
bb) Erforderlichkeit (+)
cc) Interessensabwägung zwischen dem geschützten und dem beeinträchtigten Rechtsgut (–)
III. Schuld
1. Entschuldigender Notstand, § 35 Abs. 1 StGB
a) Notstandslage
aa) Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut des Täters (+)
bb) Gegenwärtig (+)
b) Notstandshandlung
aa) Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts (+)
bb) Erforderlichkeit (+)
cc) Keine Zumutbarkeit der Gefahrhinnahme (+)
c) Subjektives Entschuldigungselement (+)
Ergebnis: Strafbarkeit nach § 212 Abs. 1 StGB (–)
Ausformulierte Lösung
Strafbarkeit von H nach § 212 Abs. 1 StGB
H könnte sich wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er O gegen den Kopf trat.
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
Fraglich ist, ob der objektive Tatbestand erfüllt ist.
Die Handlung liegt in dem Tritt gegen den Kopf.
b) Erfolg: Tod eines Menschen
O ist tot.
Fraglich ist, ob die Handlung des H kausal für den Erfolg war. Eine Handlung ist kausal für den Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele („conditio-sine-qua-non“-Formel). 33Der Tritt des H gegen den Kopf des O kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Tod des O entfiele. Folglich war die Handlung des H kausal für den Tod des O.
Zu prüfen ist, ob der Erfolg dem H auch objektiv zuzurechnen ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat, das sich im tatbestandsmäßigen Erfolg niedergeschlagen hat. 34H hat durch den Tritt gegen den Kopf des O ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen, das sich auch im tatbestandsmäßigen Todeserfolg niedergeschlagen hat. Folglich ist der Erfolg dem H auch objektiv zurechenbar.
Somit ist der objektive Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB erfüllt.
2. Subjektiver Tatbestand
H müsste auch den subjektiven Tatbestand erfüllt haben. Hierfür müsste er vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. 35Vorliegend wusste H um die Möglichkeit, dass sein Tritt gegen den Kopf tödlich sein könnte. Zwar hoffte er, dass der Erfolg in Form des Todes von O ausbleiben werde. Er wusste jedoch, dass dies sehr unwahrscheinlich ist. Obwohl ihm der Erfolgseintritt damit an sich unerwünscht war, hat er sich mit ihm abgefunden und ihn damit auch billigend in Kauf genommen. Damit hat H zumindest mit Eventualvorsatz und damit vorsätzlich gehandelt. Der subjektive Tatbestand ist somit erfüllt.
Fraglich ist, ob H rechtswidrig gehandelt hat. Rechtswidrig handelt, wer sich nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann.
Fraglich ist, ob H vorliegend in Notwehr gemäß § 32 StGB gehandelt hat.
Es müsste eine Notwehrlage bestanden haben.
Zu prüfen ist, ob ein Angriff vorlag. Ein Angriff ist jedes willensgetragene Verhalten eines Menschen, das ein rechtlich geschütztes Interesse zu verletzten droht. 36G bedroht H mit einer Pistole und droht, ihn zu erschießen. Dies stellt ein willensgetragenes menschliches Verhalten dar, welches das Leben des H zu verletzten droht. Demnach liegt ein Angriff vor.
Fraglich ist, ob der Angriff auch gegenwärtig war. Gegenwärtig ist der Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch andauert. 37G droht H, ihn sofort zu erschießen, wenn er nicht jetzt O gegen den Kopf tritt. Damit stand der Angriff auf das Leben des H unmittelbar bevor. Also lag ein gegenwärtiger Angriff vor.
Der Angriff des G müsste auch rechtswidrig gewesen sein. Das wäre der Fall, wenn er nicht seinerseits durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt wäre. 38Ein diesbezüglicher Rechtfertigungsgrund ist nicht ersichtlich. Also war der Angriff auch rechtswidrig.
Demnach lag für H eine Notwehrlage vor.
Es müsste auch eine Notwehrhandlung vorgelegen haben.
Fraglich ist, ob eine Verteidigung des H vorlag. Verteidigung ist jedes Verhalten, das sich gegen die Rechtsgüter des Angreifers richtet. 39Vorliegend trat H zur Abwehr des Angriffs des G dem O gegen den Kopf. Demnach richtete sich seine Notwehrhandlung zur Abwehr des Angriffs nicht gegen Rechtsgüter des Angreifers. Somit bestand auch keine Verteidigung.
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