Klausurhinweis: Sofern sich eine Inzidentprüfung in der Klausur durch eine chronologische Prüfungsreihenfolge vermeiden lässt (insbesondere wenn nach der Strafbarkeit aller Beteiligten gefragt ist), sollte dieser Weg gewählt werden, da dann ein Verweis auf die bereits erfolgte Prüfung möglich ist.
Der selbsternannte Discokönig Johnny (J) ist persönlich beleidigt, da ihn die hübsche Discobesucherin Olivia (O) ignoriert. Er nähert sich, als O alleine an der Bar ein Glas Wasser trinkt. Als er sie anspricht und sie sich für einen Moment umdreht, füllt er unbemerkt einige „KO-Tropfen“ in ihr Glas. Nachdem O das Glas ausgetrunken hat, dauert es nur wenige Minuten, bis sie immer müder wird und sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Beim Versuch, das Gleichgewicht auf dem Barhocker zu halten, stößt sie sich das Knie heftig am Tresen und erleidet hierdurch am Knie eine tiefe, blutende Wunde. Als J gerade O erneut ansprechen will, wobei er noch gar nicht genau weiß, was er eigentlich erreichen will, erscheint ihr Begleiter Barry (B), bemerkt, dass es O zusehends schlechter geht und bringt sie in sein Auto, um sie nach Hause zu fahren. Er muss jedoch kurz zurückkehren, um an der Garderobe die Jacke von O zu holen.
Auf dem Weg zurück zum Auto folgt ihm J, der inzwischen immer wütender geworden ist. J nimmt einen herumliegenden Stein und schlägt ihn mit voller Wucht von hinten gegen den Kopf des B. Als J gerade ein zweites Mal – mit wohl tödlicher Wirkung – zuschlagen will, gelingt es B wegzurennen. Dabei kommt es dazu, dass B den nur wenige Meter entfernt stehenden Randal (R) so heftig umrennt, dass dieser stürzt und sich ebenfalls eine blutende Wunde zuzieht. Dies wiederum nimmt B in Kauf, da anderenfalls eine Flucht unmöglich wäre. J meint nun jedoch, seine Ehre wieder hergestellt zu haben und geht zurück in die Disco. B trägt zum Glück nur eine Platzwunde am Kopf davon, die er ärztlich versorgen lässt. O erleidet in der Nacht noch heftige Schwindelanfälle, die am nächsten Tag aber wieder vergehen.
Prüfen Sie gutachterlich die Strafbarkeit des J sowie des B im Hinblick auf Körperverletzungsdelikte. § 229 StGB ist nicht zu prüfen.
Etwaig erforderliche Strafanträge sind gestellt.
Lösungsskizze
Tatkomplex 1: „KO-Tropfen“Strafbarkeit des J nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB?
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
§ 223 Abs. 1 StGB
a) Handlung (+)
b) Erfolg: körperliche Misshandlung und Gesundheitsschädigung (+)
c) Kausalität (+)
d) Objektive Zurechnung (+)
§ 224 Abs. 1 StGB
a) § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB (Beibringen eines gesundheitsschädigenden Stoffes) (+)
b) § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB (hinterlistiger Überfall) (+)
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (+)
II. Rechtswidrigkeit
II. Schuld
Ergebnis: Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB (+)
Tatkomplex 2: „Zuschlagen“Strafbarkeit von J nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 5 StGB?
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
§ 223 Abs. 1 StGB (+)
§ 224 Abs. 1 StGB
a) § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (+)
b) § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB (–)
c) § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB (+)
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (+)
II. Rechtswidrigkeit (+)
III. Schuld (+)
Ergebnis: Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB (+)
Tatkomplex 3: „Umrennen“Strafbarkeit des B nach § 223 Abs. 1 StGB?
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand (+)
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (+)
II. Rechtswidrigkeit
1. Notwehr, § 32 StGB (–)
2. Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB
a) Notstandslage
aa) Gefahr für ein Rechtsgut (Leben des B) (+)
bb) Gegenwärtigkeit (+)
b) Notstandshandlung
aa) Beeinträchtigung eines Rechtsguts (körperliche Unversehrtheit des R) (+)
bb) Erforderlichkeit (+)
cc) Interessenabwägung (Überwiegen des geschützten Interesses des B) (+)
dd) Angemessenheit, § 34 S. 2 StGB
c) Subjektives Rechtfertigungselement (+)
Ergebnis: Strafbarkeit nach § 223 Abs. 1 StGB (–)
Ausformulierte Lösung
Tatkomplex 1: „KO-Tropfen“Strafbarkeit von J nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB
J könnte sich durch das Füllen der „KO-Tropfen“ in das Glas der O wegen gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB strafbar gemacht haben.
Klausurhinweis: Bei § 224 StGB handelt es sich um eine Qualifikation, die direkt mit dem Grundtatbestand des § 223 StGB zusammen geprüft werden kann.
Hierfür müsste er tatbestandsmäßig gehandelt haben.
§ 223 Abs. 1 StGB
Zunächst müsste der objektive Tatbestand des Grunddelikts § 223 StGB erfüllt sein.
Mit dem Füllen der „KO-Tropfen“ in das Glas von O hat J offensichtlich willensgesteuert 17gehandelt.
Es müsste der Erfolg einer Körperverletzung eingetreten sein, also eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung. Körperliche Misshandlung ist die üble unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit des Opfers nicht ganz unerheblich beeinträchtigt wird. 18Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustandes. 19O hat nach anfänglicher Müdigkeit in der Nacht heftige Schwindelanfälle erlitten. Zudem hat sie eine tiefe, blutende Wunde am Knie. Dies stellt sowohl eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung ihres Wohlbefindens dar als auch einen pathologischen Zustand, so dass der Erfolg sowohl in der Form einer körperlichen Misshandlung als auch einer Gesundheitsschädigung gegeben ist.
Nach der Äquivalenzformel ist jede Handlung kausal für den Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. 20Hätte J vorliegend die „KO-Tropfen“ nicht in das Glas von O gefüllt, hätte diese weder die genannten Schwindelanfälle erlitten, noch wäre sie durch ihre Müdigkeit so geschwächt gewesen, dass sie mit der Folge einer Knieverletzung gegen den Tresen gestoßen wäre. Die Kausalität kann also bejaht werden.
Der Erfolg kann J dann zugerechnet werden, wenn dieser ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat, welches sich im tatbestandlichen Erfolg realisiert hat. 21Mit der Gabe der „KO-Tropfen“ hat J natürlich ein rechtlich missbilligtes Risiko für O geschaffen. Fraglich ist jedoch, ob sich dieses Risiko im konkreten Taterfolg realisiert hat. Unproblematisch kann dies für die Schwindelanfälle angenommen werden, die unmittelbare Folge der Einnahme der „KO-Tropfen“ sind.
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