Später stellt sich heraus, dass die Quetschungen zu einer dauerhaften Versteifung von Daumen und kleinem Finger an der rechten Hand von K geführt haben. Finger und Daumen sind nicht mehr zu gebrauchen, seine Arbeitsstelle als Bratschist im Orchester muss K aufgeben. Solch erhebliche Folgen hatte M zwar nicht beabsichtigt und ging auch nicht sicher davon aus, dass es dazu kommen würde. Da es für ihn aber nur entscheidend war, F zu beeindrucken, und er seine Kräfte gut einschätzen kann, nahm er auch eine solche dauerhafte Verletzung billigend in Kauf.
Prüfen Sie gutachterlich die Strafbarkeit von M.
Lösungsskizze
Strafbarkeit des M nach §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB?
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
§ 223 Abs. 1 StGB
a) Handlung (+)
b) Erfolg: Körperliche Misshandlung und Gesundheitsschädigung (+)
c) Kausalität (+)
d) Objektive Zurechnung (+)
§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB: kleiner Finger (–), Daumen (+)
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (+)
II. Rechtswidrigkeit
1. Notwehr, § 32 StGB
a) Notwehrlage
aa) Angriff (+)
bb) Gegenwärtig (+)
cc) Rechtswidrig (+)
b) Notwehrhandlung
aa) Verteidigung (+)
bb) Erforderlich (–)
III. Schuld
1. Notwehrexzess, § 33 StGB
a) Überschreitung der Grenze der Erforderlichkeit (+)
b) Asthenischer Affekt (Verwirrung, Furcht oder Schrecken) (–)
Ergebnis: Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB (+)
Ausformulierte Lösung
Strafbarkeit von M nach §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB
M könnte sich durch das Quetschen und Drehen der Hand des K wegen schwerer Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben.
Klausurhinweis: Außerordentlich wichtig ist es, immer genau darauf zu achten, welche Prüfungen durch die Aufgabe (den Bearbeitervermerk) vorgegeben oder ausgeschlossen sind. Natürlich käme hier auch eine Strafbarkeit seitens K durch das Festhalten des M in Betracht. Gefragt ist aber ausdrücklich nur nach der Strafbarkeit des M.
Hierfür müsste er tatbestandsmäßig gehandelt haben.
Er müsste also den objektiven Tatbestand erfüllt haben.
§ 223 Abs. 1 StGB
M hat durch das Drehen und Quetschen der Hand des K gehandelt, also ein durch einen Willensentschluss getragenes Verhalten 43ausgeführt.
Es müsste der Erfolg einer Körperverletzung eingetreten sein, also eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung. Körperliche Misshandlung ist die üble unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit des Opfers nicht ganz unerheblich beeinträchtigt wird. 44Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustandes. 45Durch das Drehen und Quetschen der Hand wurde K derart übel behandelt, dass sein Wohlbefinden und seine Unversehrtheit erheblich beeinträchtigt wurden. Die Quetschungen bis hin zur Unbrauchbarkeit von Daumen und kleinem Finger stellen einen krankhaften Zustand dar, so dass der Erfolg der Körperverletzung in beiderlei Hinsicht gegeben ist.
Nach der Äquivalenzformel ist jede Handlung kausal für den Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. 46Würde man das Verhalten von M hinwegdenken, so wäre es zur Körperverletzung bei K nicht gekommen. Auch die Kausalität kann demnach bejaht werden.
Der Verletzungserfolg bei K kann M dann zugerechnet werden, wenn dieser ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat, welches sich im tatbestandlichen Erfolg realisiert hat. 47Durch das Drehen und Quetschen der Hand hat M ein solches Risiko geschaffen, was sich in den genannten Verletzungen bei K niedergeschlagen hat. Der Erfolg kann somit M objektiv zugerechnet werden.
Der objektive Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB ist folglich erfüllt.
§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB
Zu prüfen ist im Folgenden, ob auch der objektive Tatbestand der Erfolgsqualifikation § 226 StGB erfüllt ist. Es müsste also durch das Verhalten des M auch ein bleibender Schaden im Sinne des § 226 Abs. 1 StGB eingetreten sein. In Betracht kommt vorliegend, dass ein wichtiges Glied des Körpers des K dauernd nicht mehr gebraucht werden kann. Dass es sich bei Daumen und kleinem Finger um Glieder des Körpers des K handelt, also um nach außen tretende Körperteile, die durch Gelenke mit dem Körper verbunden sind, 48steht außer Frage.
Fraglich ist indes, ob man diese auch als wichtige Glieder im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB bezeichnen kann. Davon geht man dann aus, wenn die Glieder von besonderer Bedeutung für den Gesamtorganismus sind. 49Im vorliegenden Fall wird man diesbezüglich differenzieren müssen. Während die gesamte Hand, aber auch im Einzelnen Daumen und Zeigefinger für den Menschen eine besonders hohe Bedeutung haben, kann dies für den kleinen Finger nicht bejaht werden. Geht man davon aus, dass gerade das Greifen für den Gebrauch der Hand wesentlich ist, so ist diese Funktion bei Wegfall des Daumens deutlich mehr eingeschränkt als durch den Wegfall des kleinen Fingers. Somit kann der Daumen also als wichtiges Glied angesehen werden.
Es stellt sich aber noch die weitere Frage, ob der kleine Finger vorliegend gerade für K ein wichtiges Glied ist, da er infolge der Unbrauchbarkeit seinem Beruf als Bratschist nicht mehr nachgehen kann. Ob für die Frage des wichtigen Gliedes nach § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB auf individuelle Belange abgestellt werden kann oder nur auf die generelle Bedeutung für jeden Menschen, ist umstritten. Die Rechtsprechung tendiert zu einer differenzierenden Meinung. Anerkannt werden individuelle körperliche Vorbedingungen, wenn der Betroffene z. B. bereits vor der körperlichen Misshandlung nur noch zwei Finger hatte. Nicht jedoch werden individuelle soziale Bezüge herangezogen. 50Dass also K seinem Beruf nicht mehr nachgehen kann, hat für die Frage des wichtigen Gliedes keine Bedeutung. Der kleine Finger stellt mithin kein wichtiges Glied im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar.
Klausurhinweis: Besonders wichtig im Rahmen einer Klausurbearbeitung ist eine gute Schwerpunktsetzung. Während vorliegend die Prüfung des § 223 Abs. 1 StGB sowohl objektiv als auch subjektiv keine Probleme aufwirft und deshalb recht kurz abgehandelt werden kann, liegt ein Schwerpunkt dieses Falles auf der Frage des wichtigen Gliedes. Hier sollte möglichst genau gearbeitet werden, was sich letztlich sehr positiv bei der Bewertung niederschlägt. Mit der Nennung der beruflichen Folgen macht der Klausurersteller deutlich, dass er dieses bekannte rechtliche Problem diskutiert haben möchte.
Durch die Versteifung des Daumens ist dieser laut Sachverhalt dauerhaft unbrauchbar geworden. Auch der objektive Tatbestand der Erfolgsqualifikation des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist somit gegeben.
2. Subjektiver Tatbestand
Fraglich ist nunmehr, ob auch der subjektive Tatbestand erfüllt ist, ob M also vorsätzlich hinsichtlich § 223 Abs. 1 StGB gehandelt hat. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. 51M wusste nicht nur, dass er durch sein Verhalten K unangemessen behandeln und einen pathologischen Zustand bei diesem herbeiführen würde. Er wollte dies auch, um F zu imponieren. Auch der subjektive Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB ist damit gegeben.
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