Notwehr liegt damit nicht vor.
2. Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB
Fraglich ist, ob die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB vorliegen.
Zu prüfen ist, ob eine Notstandslage bestand.
aa) Gefahr für ein Rechtsgut
Fraglich ist, ob eine Gefahr für ein Rechtsgut vorlag. Eine Gefahr ist ein Zustand, der einen Schaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. 40Vorliegend drohte G, den H zu erschießen, wenn dieser nicht O gegen den Kopf tritt. Bei ungehindertem Geschehensablauf war damit ein Schaden für das Rechtsgut Leben des H hinreichend wahrscheinlich. Demnach lag eine Gefahr vor.
Die Gefahr müsste auch gegenwärtig gewesen sein. Eine Gefahr ist gegenwärtig, wenn ein Zustand gegeben ist, dessen Weiterentwicklung den Eintritt eines Schadens ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. 41G drohte H, ihn sofort zu erschießen, wenn er nicht jetzt O gegen den Kopf tritt. Damit ist der Schadenseintritt für das Leben des H höchstwahrscheinlich, wenn er nicht alsbald O gegen den Kopf tritt. Damit war die Gefahr auch gegenwärtig.
Klausurhinweis: Es ist auch gut vertretbar, die Prüfungspunkte der „Gefahr für ein Rechtsgut“ und der „Gegenwärtigkeit“ in einem Prüfungspunkt „Gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut“ zusammenzufassen. Dann müssten lediglich die beiden Definitionen kombiniert werden.
Eine Notstandslage lag damit vor.
b) Notstandshandlung
aa) Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts
Indem H dem O gegen den Kopf getreten hat, hat er ein fremdes Rechtsgut beeinträchtigt.
Fraglich ist, ob der Tritt gegen den Kopf des O vorliegend auch erforderlich war.
Dies setzt zunächst voraus, dass der Tritt geeignet war, die gegenwärtige Gefahr abzuwehren. Dies wäre der Fall, wenn er hierzu ein taugliches Mittel dargestellt hätte. G drohte H, ihn zu erschießen, wenn er nicht O gegen Kopf tritt. Der Tritt war demnach ein zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr förderliches Mittel. Demnach war der Tritt auch zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr geeignet.
Zudem dürfte kein milderes Mittel vorhanden gewesen sein, welches zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr gleich wirksam gewesen wäre. 42Vorliegend bedrohte G den H mit einer Pistole und drohte, ihn sofort zu erschießen, wenn er nicht O gegen den Kopf tritt. Ein milderes Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr auf das Leben des H war nicht ersichtlich. Demnach war der Tritt gegen den Kopf des O auch erforderlich.
cc) Interessensabwägung zwischen dem geschützten und dem beeinträchtigten Rechtsgut
Das durch die Gefahr bedrohte Rechtsgut müsste bei einer Interessensabwägung mehr wert sein als das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut. Das durch die Gefahr bedrohte Rechtsgut war das Leben des H. Das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut war das Leben des O. Demnach überwiegt das geschützte Rechtsgut des H nicht das beeinträchtigte Rechtsgut des O.
Eine Notstandshandlung liegt damit nicht vor.
Klausurhinweis: Aus diesem Grund kann der Merksatz aufgestellt werden, dass die Tötung eines Menschen nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt sein kann.
Die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB liegen damit nicht vor.
Es liegen demnach keine Rechtfertigungsgründe vor. H handelte rechtswidrig.
Fraglich ist, ob H schuldhaft handelte. Schuldhaft handelt, wer keine Entschuldigungsgründe vorweisen kann.
1. Entschuldigender Notstand, § 35 Abs. 1 StGB
In Betracht kommt vorliegend der Entschuldigungsgrund des entschuldigenden Notstands nach § 35 Abs. 1 StGB.
Es könnte eine Notstandslage vorgelegen haben.
aa) Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut des Täters
Wie bereits geprüft, lag eine Gefahr für das Leben des H vor und damit auch eine Gefahr für das qualifizierte Rechtsgut „Leben“ des Täters im Sinne von § 35 Abs. 1 StGB.
Wie gesehen ist diese Gefahr auch gegenwärtig gewesen.
Klausurhinweis: Die Prüfungspunkte „Gegenwärtigkeit“, „Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts“ und „Erforderlichkeit“ sind deckungsgleich mit § 34 StGB, so dass – sofern eine Prüfung dieser Merkmale bei § 34 StGB bereits erfolgt ist – auf die entsprechenden Ausführungen verwiesen werden kann.
Somit bestand eine Notstandslage.
Fraglich ist, ob eine Notstandshandlung vorlag.
aa) Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts
Wie bereits geprüft, lag die Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts vor.
Ebenso war der Tritt gegen den Kopf zur Abwehr der Gefahr auch erforderlich.
cc) Keine Zumutbarkeit der Gefahrhinnahme
H dürfte es nach § 35 Abs. 1 S. 2 StGB nicht zumutbar gewesen sein, die Gefahr hinzunehmen. Eine Zumutbarkeit der Gefahrhinnahme besteht insbesondere dann, wenn der Täter die Gefahr selbst verursacht hat. Eine solche Gefahrverursachung durch H ist vorliegend nicht ersichtlich. Auch eine Pflicht zur Hinnahme der Gefahr aufgrund einer Unverhältnismäßigkeit des drohenden Schadens bei H besteht nicht, da vorliegend eine gegenwärtige Gefahr für sein Leben besteht.
Klausurhinweis: Die Prüfung einer Pflicht zur Hinnahme der Gefahr bei § 35 Abs. 1 StGB aufgrund Unverhältnismäßigkeit des drohenden Schadens durch die Gefahr im Vergleich zum beeinträchtigten Rechtsgut ist nicht dasselbe wie die Interessensabwägung bei § 34 StGB. Bei § 35 Abs. 1 StGB wird nämlich gerade nicht verlangt, dass der drohende Schaden durch die Gefahr das beeinträchtigte Rechtsgut überwiegt, so dass auch bei Gleichrangigkeit der Rechtsgüter oder einem Überwiegen des beeinträchtigten Rechtsguts eine Entschuldigung möglich ist.
Demnach war H nach § 35 Abs. 1 S. 2 StGB die Hinnahme der Gefahr auch nicht zumutbar.
Eine Notstandshandlung lag vor.
c) Subjektives Entschuldigungselement
H handelte auch in Kenntnis der Notstandslage, um die Lebensgefahr für sich abzuwenden.
Demnach lagen die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes nach § 35 Abs. 1 StGB vor. H handelte also nicht schuldhaft.
H hat sich nicht wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er O gegen den Kopf trat.
Macho Manni (M) hat ein Auge auf die Freundin Frieda (F) seines Orchesterkollegen Karlchen (K) geworfen, was diesem nicht verborgen bleibt. Nach einigen Provokationen seitens M nimmt der schwächliche K all seinen Mut zusammen und entschließt sich, dem Treiben ein Ende zu machen.
Als die beiden sich in Begleitung der F von der Arbeit auf den Heimweg machen, stößt K den M völlig überraschend zu Boden, wirft sich auf ihn, hält dessen Arme fest und fordert triumphierend, dass M sich entschuldigen und F nie mehr ansprechen solle. Dieser Aufforderung kommt M natürlich nicht nach, weshalb ihn K immer fester zu Boden drückt. Einige Minuten lang lässt M dies geschehen, obwohl er von Beginn an merkt, dass er sich mit einem simplen Griff aus der Umklammerung lösen könnte, was nur zu unwesentlichen Schmerzen bei K führen würde. Als er jedoch den verächtlichen Blick von F bemerkt, entschließt er sich, um diese zu beeindrucken, die eigentlichen Machtverhältnisse deutlich zu machen. Ohne weitere Vorwarnung greift er die Hände von K und quetscht und dreht diese mit einer solchen Kraft, dass K nicht nur von M ablässt, sondern vor Schmerzen laut schreiend davon läuft.
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