Trotzdem suchte ich weiter und verlor mich darin, mehr über die lange und berühmte Geschichte der Katakomben zu erfahren. Zuerst waren sie Tunnel eines Kalksteinbruchs gewesen, die sich zweitausend Jahre auf die ersten römischen Siedler zurückdatieren ließen. Während des Kathedralenbooms des späten Mittelalters waren sie massiv erweitert worden, zogen sich wie Honigwaben unter den Arrondissements links des Flussufers und den Vororten südlich der Kernstadt her. Im späten achtzehnten Jahrhundert, lange, nachdem der Steinbruch stillgelegt worden war, war Paris zu einer überfüllten Stadt geworden. Sie besaß eine anwachsende Bevölkerung, die nach Wohnraum und Grabstätten schrie. Kirchen betrieben ihre eigenen Friedhöfe, aber sie waren überfüllt und unhygienisch. Um wertvollen Grundbesitz zu schaffen und um sich der von drei Meter tief vergrabenen Leichen, die wortwörtlich durch die Kellerwände der Menschen brachen, verursachten Gesundheitsrisiken zu entledigen, befahlen Beamte, die Gräber auszuheben – alle. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die skelettierten Überreste von sechs Millionen Toten in die verlassenen Brüche geworfen und das größte Massengrab der Welt geschaffen.
Aus Sicherheitsgründen war der Zugang seit den Fünfzigern verboten, die meisten Eingänge versiegelt, obwohl das Menschen wie Danièle und Pascal nicht abgeschreckt hatte. Sie nannten sich selbst Kataphile, ein umgangssprachlicher Name für Urban Explorers des Untergrunds …
Mein Handy klingelte plötzlich und durchbrach die lernbegierige Trance, in die ich gefallen war.
Danièle?
Ich nahm mein Telefon aus meiner Tasche und sah auf das Display. Eine unbekannte Rufnummer. Ich drücke auf Annehmen.
»Hallo?«
Keine Antwort.
»Hallo?«
»Will?«
Mein Herzschlag setzte kurz aus. »Bridgette?«
»Will, kannst du mich hören?«
»Ja, kannst du mich hören?«
»Jetzt ja. Ich schätze, wir waren verzögert.« Eine Pause. »Wie geht’s dir?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich und stand aus irgendeinem Grund auf. Eine warme Brise kam durch das Fenster und roch nach frisch geschnittenem Gras. Der Vermieter mähte mittlerweile die grüne Rasenfläche mit einem Handrasenmäher. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war zehn nach sieben. »Wie spät ist es bei dir?«, fragte ich.
»Ich mache gerade Mittagspause.«
Bridgette und ich hatten uns ein paar Emails geschrieben, seit ich New York verlassen hatte, und ich hatte ihr meine neue Telefonnummer gegeben, aber das war das erste Mal, dass sie anrief.
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber mir fiel auf, dass ich nichts zu sagen hatte. Ich kam mir vor, als wäre ich mit einem Fremden in einem Aufzug. Es erschütterte mich, wie Bridgette und ich uns einmal so nah gestanden hatten, alles miteinander geteilt hatten, und nun weniger geworden waren als Freunde. Denn Freunde hatten einander wenigstens etwas zu sagen.
»Gefällt dir Paris?«, fragte sie.
»Es ist eine nette Stadt.«
»Es ist … wie lange her?«
»Fast drei Monate.«
»Und der Stadtführer?«
»Wird. Ich werde wahrscheinlich noch ein paar Monate brauchen.«
»Und dann?«
»Ich glaube, sie wollen, dass ich den Barcelona-Führer überarbeite.«
»Spanien! Sehr schön. Es freut mich, dass du glücklich bist.«
Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht sicher war, ob ich glücklich war, aber ich tat es nicht.
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Alles okay?«
»Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss, Will.« Sie zögerte. Es waren vielleicht nur ein oder zwei Sekunden, aber für mich fühlten sie sich wie eine Ewigkeit an. In diesem Moment war ich davon überzeugt, dass sie mir sagen würde, dass sie wieder mit mir zusammen kommen wollte. Sie sagte: »Ich hab jemanden kennengelernt.«
Plötzliche wurde mir ganz heiß. Ich starrte weiter aus dem Fenster, obwohl ich den Hof nicht länger sah. Alles außer Bridgettes Stimme war nebensächlich geworden. »Du meinst einen festen Freund?«
»Ja.«
Ich rührte mich noch immer nicht. Ich war taub. Gefühlsmäßig taub.
Warum zum Teufel erzählte sie mir das?
»Einen Anwalt?«, fragte ich, von der Normalität in meiner Stimme überrascht.
»Er ist Polizeibeamter.«
»Ein Bulle?«
»Ja.«
»Hm. Tja …«
»Will, wir haben uns gerade verlobt.«
Ich hatte es immer für melodramatisch gehalten, wenn jemand einem sagte, man solle sich setzen, bevor man bestimmte gute oder schlechte Neuigkeiten hörte. Jetzt hielt ich es für eine gerechtfertigte Vorwarnung, weil meine Knie wortwörtlich nachgaben und ich in den Sessel fiel.
Bridgette sagte: »Ich wollte nicht, das du es auf Facebook oder so rausfindest …«
»Ich benutze kein Facebook.«
»Du hast einen Account.«
»Seit wann kennst du diesen Kerl?«
»Wir haben uns im März kennengelernt.«
»Zwei Monate? Nicht mehr? Und ihr seid verlobt?«
»Wir … ich bin schwanger«, sagte sie. »Es war nicht geplant«, fügte sie schnell hinzu. »Aber … dann … plötzlich war mir morgens immer schlecht und ich hab einen Test gemacht. Und … und wir entschieden, dass es das Beste wäre, zu heiraten.«
Ich hörte zu, aber ich hörte nicht hin. Meine Gedanken waren tausend Meilen weit fort, rasten im Schnellvorlauf durch die Jahre, die ich mit ihr verbracht hatte. Wie gut sie zu mir gewesen war. Wie sie zu mir gestanden hatte, als es kein anderer getan hatte. Wie sehr ich sie geliebt hatte. Wie ich alles für sie getan hätte.
Wie konnte sie mit jemand anderem verlobt und mit seinem Kind schwanger sein?
Sie gehörte mir. Sie hatte immer mir gehört.
Ich stand wieder auf. Wut tobte in mir, verschlang mich von innen nach außen. Mein Kiefer war zusammengebissen, meine freie Faust öffnete sich, schloss sich, öffnete sich. Ich wollte das Telefon aus dem Fenster werfen, so weit ich konnte.
Stattdessen schloss ich die Augen und neigte den Kopf nach hinten. Ich atmete stumm durch. Was war mein Problem? Verdammt, ich hatte erst neulich mit Danièle geschlafen. Bridgette hat jedes Recht, dasselbe mit jemand anderem zu tun. Sie hatte nicht vorgehabt, schwanger zu werden. Es war passiert. Was wollte ich also von ihr? Dass sie abtrieb? Den Typen nicht mehr sah? Wozu sollte das alles gut sein? Zwischen uns war es aus.
Aber das war’s nicht. Ich wäre zurückgekommen, wir hätten noch mal von vorne angefangen …
»Will?«, fragte Bridgette. »Bist du noch dran?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»Ich weiß, wie sich das alles anhören muss …«
»Ich verstehe es. Und … Glückwunsch. Ich freu mich für dich.«
Sie sagte nichts. Die statischen Störgeräusche der Fernverbindung zischelten in der Leitung.
Dann: »Danke, Will.« Ihre Stimme war heiser und ich glaubte, dass sie womöglich weinte. »Das bedeutet mir eine Menge.«
Ein Stimmenchor erklang im Hintergrund.
»Ich sollte gehen«, sagte sie.
Ich widersprach nicht. Es gab nichts mehr zu sagen.
»Will?«
»Ja?«
»Du bist mir sehr wichtig. Das wirst du immer sein.«
»Du bist mir auch wichtig.«
Ich legte nicht sofort auf. Sie anscheinend auch nicht, weil die Verbindungsgeräusche noch weitere fünf Sekunden anhielten.
Dann Stille, vollkommene Stille.
Sie war fort.
***
Irgendwann später, als die Abenddämmerung hereinbrach und die Schatten vor meinem Fenster länger wurden, begann ich, eine Tasche zu packen.
Der Name des Pubs, den Danièle vorhin auf die Serviette geschrieben hatte, war La Cave. Die Fassade war unscheinbar und ich lief auf meinem ersten Gang über die Rue Jean-Pierre Timbaud zweimal direkt an der Holztür und dem kleinen Neonschild vorbei.
Das Innere besaß die Intimität, die Faszination und das Geheimnisvolle einer Mondscheinkneipe. Rote Kegellampen, die von der Tonnengewölbsdecke herabhingen, warfen ein karamellfarbenes Licht über die kapitonierten Sofas und Sessel und die niedrigen Holztische. Die Bar war in eine Ecke geschmiegt. Hinter der Theke aus Räuchereiche listete eine Tafel eine Vielfalt von Cocktails auf. In einer anderen Ecke stand eine weiße, klauenfüßige Badewanne voller Eis und grünen Flaschen, die nach selbst gebrautem Bier aussahen. Freundliche alte Herren plauderten neben Scharen jüngerer Hipster, deren Stimmen und Gelächter zu lärmender Heiterkeit erhoben waren.
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