Sie erwischte mich beinahe jeden Tag, wenn ich an ihrer Wohnung vorbeiging. Ich hatte die Theorie entwickelt, dass sie sich entweder meine Routine gemerkt hatte, oder dass sie bei der Tür saß und geduldig darauf wartete, dass ich nach Hause kam. Für mich war sie der Typ Miss Havisham. Obwohl sie weder eine alte Jungfer noch rachsüchtig war, war sie einsam und todunglücklich, und verbrachte den ganzen Tag lang einsiedlerisch drinnen. Im Grunde wäre ich nicht überrascht zu erfahren, dass sie alle ihre Uhren zum genauen Todeszeitpunkt ihres Ehemanns vor fast zwei Jahrzehnten gestoppt hatte.
» Bonjour, Madame Gabin «, grüßte ich.
»So schön, der Tag, finden Sie nischt?«, fragte sie durch die linke Seite ihres Mundes. Die teilweise Gesichtslähmung, hatte sie mir erzählt, war das Ergebnis eines Schlaganfalls, den sie vor einiger Zeit in einem Zug nach Bordeaux auf dem Weg zur Beerdigung ihrer Schwester erlitten hatte.
»Wirklich schön«, stimmte ich zu, ein bisschen lauter als im Plauderton, weil sie nicht gut hörte. »Die perfekte Temperatur.«
» Un moment. Isch ‛abe etwas für Sie.«
»Nein, Madame …«
Aber sie war wieder in ihrer Wohnung verschwunden. Ein paar Augenblicke später kam sie mit einem Teller voll Pfannkuchen in der Hand zurück. Sie hatte immer die ein oder andere Süßspeise für mich.
»Sie müssen echte französische Crêpe probieren«, sagte sie. »Isch mache etwas …« Einen Moment lang schien sie es vergessen zu haben. »Ah, oui . Isch mache ein kleines bisschen Grand Marnier ‘inein.«
Ich nahm ihr den Teller ab, der angefangen hatte, in ihren Händen zu beben. »Sie werden mich noch dick machen.«
»Isch ‘offe es! Sie sind très dünn. Sie müssen essen.«
Ältere Menschen liebten es, diesen Rat zu geben. Meine Großeltern hatten mir jedes Mal, wenn ich sie als Heranwachsender sah, dasselbe gesagt. Und ich hatte sie oft gesehen. Sie hatten ein paar Blocks von meiner Familie entfernt in Seattle gewohnt. Selbst in meinen späten Teenagerjahren, als mein ein Meter fünfundneunzig großer Körper seinen Höhepunkt bei über neunzig Kilogramm erreicht hatte, gab mir meine eine noch lebende Großmutter Schokolade, wann immer ich sie in der Bayview Retirement Community besuchte, und sagte mir, ich müsse etwas Speck auf die Rippen bekommen.
Madame Gabin hatte jedoch recht. Ich hatte in letzter Zeit sehr viel Gewicht verloren und konnte zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben als hager beschrieben werden. Neuerdings war ich einfach nicht hungrig. Ich wusste nicht, ob mein verminderter Appetit davon kam, dass ich wieder angefangen hatte zu rauchen, oder weil ich mit den Dämonen der Depression kämpfte. Ich nahm an, es war eine Mischung aus beidem.
»Ich werde alles aufessen«, versicherte ich ihr. »Das sieht köstlich aus.«
»Roland, der liebte seine Crêpes . Isch machte sie für ihn jeden Morgen.«
Roland Gabin, der längst verstorbene Ehemann, hatte im Zweiten Weltkrieg Spitfires geflogen und dann die nächsten vierzig Jahre im Beamtenstand verbracht, bis sein Herz im Alter von vierundsechzig den Dienst versagte.
Ich sagte: »Er hatte Glück, Sie zu haben.«
Madame Gabin nickte, aber ihre Augen waren verschleiert, als hätte sie sich in der Vergangenheit verloren. Arme Frau, dachte ich. Sie hatte niemanden. Zumindest hatte ich nie gesehen, dass sie jemand besucht hatte, seit ich ihr Nachbar geworden war. Keine Kinder, keine Enkelkinder. Falls, oder eher wenn sie in ihrer Wohnung sterben würde, würde sie vermutlich unentdeckt dort liegen, in ihrem Bett oder in ihrem Sessel oder wo auch immer verwesen, bis jemand – ich? – einen merkwürdigen Geruch bemerken würde. Es war ein unwürdiges Schicksal für eine Lady, von der ich annahm, dass sie in ihren besten Jahren so hinreißend und charmant wie ein Filmstar gewesen war.
»Tja, danke«, sagte ich und hielt den Teller in die Höhe.
Sie blinzelte. » Oui. De rien. «
Ich machte mich auf den Weg zu meiner Wohnung und stoppte dann. Madame Gabin stand noch immer vor ihrer Eingangstür und starrte in mittlere Ferne.
»Madame Gabin?«
Sie antwortete nicht.
»Audrey?«
Sie drehte mir langsam den Kopf zu.
»Was machen Sie morgen Abend?«
»Morgen?«
»Ich habe in letzter Zeit französisch Kochen geübt. Ich glaube, ich hab den Dreh von ein paar Gerichten raus, aber ich hätte gerne etwas Feedback. Möchten Sie zum Abendessen kommen?«
»Oh, non, merci . Isch … isch glaube nischt …«
»Ich würde gerne noch ein paar Geschichten über Ihren Mann hören.«
» Vraiement? « Ihre Miene erhellte sich. »Nun ja … ja, oui , wenn das in Ordnung ist?«
»Wie wäre es um sieben Uhr?«
»Ja, sieben Uhr. Isch bringe Dessert.«
Auf ihre traurig-zufriedene Weise lächelnd hinkte sie in ihre Wohnung zurück, während ich in meine ging.
***
Meine schuhkartongroße Einzimmerwohnung wies einen so schockierenden Mangel an Besonderheit auf, dass es eine Besonderheit an sich war. Sie war eintönig eingerichtet, mit braunem Teppich von Wand zu Wand, einem Ei-Sessel, der älter war als ich, einem kleinen Holzschreibtisch und einem Bett mit Metallrahmen, das so kurz war, dass meine Füße über die Kante hingen. Ein Fernseher stand auf einem niedrigen Tisch in der Ecke. Er empfing nur ein paar Kanäle und ich benutze ihn kaum. Die Wände waren senfgelb und von den Löchern von Schrauben und Nägeln vernarbt, die frühere Mieter zum Aufhängen von Bildern benutzt hatten. Meine einzigen Ergänzungen waren ein Bügeleisen mit Bügelbrett, weil die Trockner im Waschsalon einen Block weiter nicht vernünftig funktionierten und meine Kleider feucht und zerknittert blieben.
Trotzdem war ich mit der Wohnung zufrieden. Sie war nicht viel kleiner als die, die Bridgette und ich uns bei der Bowery geteilt hatten. Es gab auch einen Ofen, was super war, um Tiefkühlpizzen aufzubacken, wenn ich keine Geduld dafür hatte, mir eine Pizza zu bestellen, und einen Balkon, was, wie Danièle mir sagte, in Paris ungewöhnlich war.
Ich schnappte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnete dann das Fenster, das den kleinen Hof überblickte, um den Geruch von stockfleckigem Papier hinauszulassen, der das gesamte Gebäude durchdrang. Die Luft war frühlingsfrisch und der Vermieter umrundete den Garten mit einer Harke und schuf eine Art Abflussrinne. Ich sah selten einen der Mieter dort unten. Tatsächlich sah ich, von Audry Gabin abgesehen, selten irgendeinen der Mieter irgendwo, zu irgendeiner Zeit.
Ich setzte mich in den Sessel, klappte meinen Laptop auf und ging ins Internet. Ich tippte »Paris Katakomben vermisste Person« in die Suchmaschine. Die erste Ergebnisseite bezog sich hauptsächlich auf den Teil der Katakomben unter dem Montparnasser Place Denfert-Rochereau. Das war die der Öffentlichkeit zugängliche Touristenattraktion. Gegen Eintritt konnte man hundertdreißig Stufen unter die Erde steigen und einem schwach beleuchteten Rundweg folgen, der an makabren Gassen und Säulen vorbeiführte, kunstvoll aus Schienbeinen und Oberschenkelknochen errichtet, zwischen denen immer wieder ausdruckslose Schädel eingestreut waren.
Ich versuchte einige verschiedene Suchwortkombinationen, stieß aber auf nichts, das eine vermisste Frau oder eine verloren gegangene Videokamera beinhaltete. Ich hatte gehofft, das Video zu finden, das Danièle mir gezeigt hatte, oder wenigstens einen Hinweis darauf. Das hätte bewiesen, dass Pascal Mist erzählte. Er hatte es heruntergeladen, es war ein Jux, das war alles. Unglücklicherweise deutete die Tatsache, dass es keinen Hinweis auf das Video gab, darauf hin, dass der Kerl wahrscheinlich die Wahrheit gesagt und es persönlich gefunden hatte.
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