Knochen und Knochen und noch mehr Knochen, so weit ich sehen konnte.
Ich zwang mich auf die Beine, machte einige schwerfällige Schritte, als würde ich durch Sirup waten, und sank dann auf die Knie. Unter meinem Gewicht zersplitterte ein jahrhundertealter Oberschenkelknochen knackend wie Totholz.
Der Klang meiner Verfolger wurde lauter. Ich weigerte mich, einen Blick über die Schulter zu werfen. Stattdessen packte ich die Knochen vor mir; die Finger um die zerbrechlichen Stücke geschlungen zog ich mich vorwärts, denn meine Beine reagierten überhaupt nicht mehr.
Schließlich, zu Tode erschöpft, fiel ich der Länge nach hin und lag keuchend zwischen den abertausenden skelettierten Überresten, während sich eine einschläfernde Dunkelheit in mir ausbreitete.
Sie riechen gar nicht, dachte ich, Knochen riechen nach gar nichts, witzig, hab immer gedacht, das würden sie.
Und dann, zerstreut, wie ein Nebengedanke: Ich will nicht so sterben, nicht hier, nicht so, nicht in einem Massengrab. Ich will nicht einfach nur ein weiterer Haufen namenloser Gebeine sein, von der Welt vergessen.
Diese Videokamera.
Diese verdammte Videokamera.
40 Stunden zuvor
Ich saß auf einer Pflasterterrasse im dritten Pariser Arrondissement, wartete darauf, dass mein dampfender Cappuccino abkühlte, und dachte daran, dass ich weit von Zuhause fort war. Ich war in Olympia, Washington, geboren worden, aber meine Familie war nach Seattle gezogen, als ich zehn war, weil mein Vater seinen Job als Kameratechniker bei Canon verloren und entschieden hatte, dass er in einer größeren Stadt eine bessere Arbeitsstelle finden könnte. Am Ende verkaufte er Gebrauchtwagen für einen Fordhändler. Er war nie gut darin, nicht zum Verkäufer geboren, und nahm bis zu seinem Ruhestand Befehle von jemandem entgegen, der zwanzig Jahre jünger war als er. Meine Mutter, leitende Bibliothekarin einer privaten Highschool in Olympia, fand eine Verwaltungstätigkeit im King County Bibliothekswesen in Seattle. Obwohl sie mit dem Umzug eine Gehaltskürzung hinnahm, beschwerte sie sich nicht. Sie war schon immer ein Teamplayer gewesen und dachte zuerst an andere, dann an sich selbst. Das galt besonders für die Familie.
Viele meiner Jugendfreunde gingen zur Seattle University oder zur U-Dub oder an eins der kleineren Colleges im Bundesstaat. Sie wollten in der Nähe ihres Zuhauses bleiben, damit sie bei ihren Eltern wohnen konnten, um Kohle zu sparen. Wo ist da das Abenteuer? , dachte ich und siedelte ans andere Ende des Landes um, nach New York City, um dort an der NYU Journalismus zu studieren. Ich wollte das College-Erlebnis, und um das zu bekommen, musste man von daheim weg. Ich erinnere mich daran, dass mein Lehrer für englische Literatur in der zwölften Klasse uns einmal erzählte, dass die Collegezeit die besten drei oder vier Jahre unseres Lebens sein würden, und dass wir gut daran täten, sie voll auszukosten. In meinem Fall hatte er recht gehabt. Nicht weil das College das reinste Vergnügen gewesen wäre – obwohl es solche Zeiten gegeben hatte –, sondern vielmehr, weil alles ziemlich beschissen für mich gewesen war, seit meine kleine Schwester, Maxine, zwei Jahre nach meinem Abschluss gestorben war.
Als ich mich an einen Schluck meines abkühlenden Getränks traute, entschied ich, dass mich das dritte Pariser Arrondissement an die Manhattener Soho-Gegend erinnerte. Es hatte eine junge Atmosphäre mit all seinen Pubs und Designerboutiquen und Vintageläden und zu Hipster-Stammlokalen gewordenen Brasserien. Der Hauptunterschied, würde ich sagen, lag darin, dass hier niemand wirklich in Eile zu sein schien, irgendwohin zu kommen.
Die Tische um mich herum hatten sich mit der Feierabendmenge gefüllt, den Männern in dunklen Anzügen, manche ohne Schlips oder Jackett, den Frauen in Büroröcken und schlichten Blusen. Wie es dem Brauch in dieser Stadt zu entsprechen schien, saßen alle mit dem Blick zur Straße da und beurteilten lässig die Vorübergehenden.
Ich stellte den weißen Becher mit einem leisen Porzellanklirren auf den Unterteller zurück und urteilte auch. Eine Frau, die Lippenstiftfarben und Stöckelschuhe trug, fesselte meine Aufmerksamkeit. Sie war gertenschlank, mit ausgeprägten Wangenknochen und einer Hakennase, nicht der Typ Frau, den man nach dem Weg fragen würde. Eine große Sonnenbrille bedeckte den Großteil ihres Gesichts. Das war auch so etwas hier. Jeder trug tolle Brillen. Keine billigen verschreibungspflichtigen von LensCrafter oder Sonnenbrillen aus dem Drogerieregal mit getönten Gläsern und fluoreszierenden Rahmen. Nur hochwertiges Designerzeug. Ich hatte mir vor einer Weile eine Ray Ban Pilotenbrille gekauft. Ich fing auch an, eher neutrale Farben zu tragen. Mittlerweile hielt ich mich meistens an Schwarz und ich schätzte, ich sah so französisch aus, wie man eben aussehen konnte.
In dem Moment entdeckte ich Danièle in der Mitte des Häuserblocks. Sie kam auf einem rosa Fahrrad mit perlenfarbenen Schutzblechen und einem Weidenkorb vorne an der Lenkstange auf mich zu gefahren.
Ich stand auf und winkte. Sie hielt neben dem Tisch an, stieg schwungvoll vom Fahrrad, stützte es auf den Ständer und beugte sich dann für einen doppelten Luftkuss näher – gesellschaftliche Konvention für Hallo und Auf Wiedersehen. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, das war nichts für mich, aber egal. Andere Länder, richtig?
»Entschuldige die Verspätung, Will«, sagte sie auf Englisch mit ihrem französischen Akzent. »Möchtest du etwas essen?«
»Nein, danke«, antwortete ich und setzte mich wieder, während sie das Café betrat. Ich beobachtete sie durch das große Erkerfenster. Mit ihrer rabenschwarzen Fransenfrisur, ihrem Elfengesicht, der dunklen Wimperntusche, den geschwärzten Wimpern und bleichen Lippen erinnerte mich Danièle an Joan Jett zur »I Love Rock ‛n’ Roll« Zeit. Sie trug ein mit Schmetterlingen bedrucktes Sommerkleid, das sich an ihren dünnen Körper schmiegte, während sie sich bewegte, einen elegant um den Hals geschlungenen Seidenschal und kniehohe grüne Wildlederstiefel.
Ich überlegte, wie lange ich sie jetzt kannte. Zwei Monate? Zweieinhalb? So ungefähr. Damals war ich schon mindestens ein paar Wochen in Paris gewesen, hatte es satt, mich wie ein Pantomime durch die Stadt zu bewegen, und hatte mich deswegen entschieden, es mit Französisch lernen zu versuchen. Ich gab eine Anzeige für einen Sprachlernpartner in der französischen Version von Craigslist auf. Die Seite wurde hauptsächlich von hier lebenden Amerikanern genutzt. Die Franzosen schienen nicht damit warmzuwerden, weil sie Schwierigkeiten damit hatten, »Craigslist« auszusprechen. Trotzdem erhielt ich mehrere Antworten. Ich beschloss, mich mit Danièle zusammenzutun, weil sie in ihren ersten Emails aufgeschlossen und freundlich wirkte.
Seitdem hatten wir einander recht gut kennengelernt. Sie war in Deutschland als Tochter eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter geboren worden. Sie hatten sich scheiden lassen, als sie sechs war, und sie war mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester nach Frankreich gezogen. Vor zwei Jahren hatte sie ihren Abschluss an der École des Mines gemacht. Das war eine renommierte Ingenieurschule, das MIT Frankreichs. Sie hätte ihr Praktikum in jeder Firma ihrer Wahl machen können. Laut ihren eigenen Worten wollte sie es allerdings eine Weile ruhiger angehen lassen und verbrachte ihre Tage jetzt damit, in einem Blumenladen zu arbeiten, und ihre Nächte damit, das Netzwerk der Katakomben zu erkunden, die sich unter der Stadt erstrecken.
Wir trafen uns zweimal die Woche, normalerweise montags und freitags. Am einen Tag brachte sie mir Französisch bei, am anderen brachte ich ihr Englisch bei. Eigentlich musste ich ihr nicht wirklich etwas »beibringen«. Sie sprach ziemlich fließend. Englisch war eine Voraussetzung für die Zulassung zu Les Mines gewesen und sie hatte es als Jugendliche gründlich gelernt. Sie sagte, sie suche nur nach jemandem, mit dem sie die Sprache sprechen konnte, damit sie nicht einrosten würde.
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