Mark ist immer so nett zu ihr. Ganz im Gegensatz zu Ms Kendrick und den beiden anderen Mitgründern, die sie kaum wahrzunehmen scheinen. Wer so weit oben in der Befehlskette steht, hat offenbar Schwierigkeiten, Imogen auch nur zu sehen. Für die drei ist sie bloß ein Punkt in der Ferne. Aber Mark ist anders, er gesellt sich auch mal dazu, wenn die Angestellten in der kleinen Küche Kaffee trinken und den neuesten Büroklatsch austauschen. Er lacht mit ihnen, erzählt Witze, erträgt sogar den grausigen Instantkaffee, auf den man hier als Koffeinjunkie angewiesen ist. Ms Kendrick lässt sich zweimal am Tag einen Kaffee von Pret a Manger kommen.
An Imogens erstem Tag bei London Analytica sagte Mark ihr, dass sie ihn ruhig fragen könne, wenn sie etwas brauche. Ein paar Tage später konnte sie dann den Drucker nicht zum Laufen bringen. Sie war als junger Mensch mit Technikkenntnissen angeheuert worden, weil es davon in jeder Firma mindestens einen braucht, und jetzt war sie nicht in der Lage, ein einseitiges Dokument auszudrucken – peinlich. Doch Mark kam einfach vorbei und scherzte, der Drucker sei fast so alt, dass er noch mit Dampf betrieben werde, und die ordnungsgemäße Bedienung einer Dampfmaschine falle nun wirklich nicht in Imogens Aufgabenbereich.
Obwohl Mark immer so nett zu ihr ist, achtet Imogen genau darauf, seine Freundlichkeiten nicht zu erwidern. Sie ist nicht unhöflich, sie verhält sich nur professionell. Kein Lächeln, nie lachen oder scherzen. Diese Lektion hat das Monster sie gelehrt, unter anderem. Diese Narbe hat sie ihm zu verdanken, unter anderem. Sie kann das Gefühl nicht hinter sich lassen, dass sie irgendwie selbst schuld war. Dass sie neue männliche Bekannte nicht ermutigen sollte.
Ms Kendrick räuspert sich, ein geräuschvolles Abhusten von Schleim, das Imogen nur auf sich selbst beziehen kann. »Könntest du bitte fortfahren, Immie? Damit Mark noch dazu kommt, über die finanzielle Seite zu sprechen.«
Mark setzt sich. Nickt ihr aufmunternd zu.
Imogen öffnet den Mund, um ihren Vortrag fortzusetzen. Es kommt kein Laut heraus. Sie probiert es noch mal. Nichts.
Fische, hat sie mal gehört, atmen unter Wasser, indem sie es ins Maul ein- und durch die Kiemen wieder ausströmen lassen. So geht der Sauerstoff ins Blut über und gelangt in die Körperzellen. Wie sie so dasteht und ihren Mund öffnet und schließt, sich am Rande der Verzweiflung abquält, um die Worte irgendwie über die Lippen zu bekommen, sieht sie wahrscheinlich aus wie ein Fisch auf dem Trockenen, der noch für ein paar letzte Minuten nach Luft schnappt.
Imogen kann so nicht mehr leben.
Sie lässt die Fernbedienung für die PowerPoint-Präsentation fallen. Mit einem hohlen Aufprall landet sie auf dem Boden, das typische Klappern von Billigplastik auf edlem Massivholz.
»Imogen«, hört sie Ms Kendrick sagen, während sie den Menschen am Konferenztisch den Rücken zukehrt. Seit ihrem Vorstellungsgespräch hat Ms Kendrick sie nicht mehr so genannt. »Imogen, wir haben einen Zeitplan einzuhalten.«
Imogen stolpert dorthin, wo die Tür ungefähr sein müsste. Wo sie sich genau befindet, ist bei einer Wand aus Glas, Glas und noch mehr Glas nicht so leicht auszumachen.
»Tut mir leid«, murmelt sie und tastet ungeschickt nach dem Türknauf. Erwischt ihn, packt zu, spürt den kalten Stahl in ihrer Hand.
Sie dachte, sie hätte sich richtig entschieden. Dachte, es wäre ein Zeichen innerer Stärke, den Mund zu halten. Doch wann immer sie in der U-Bahn von irgendeinem Typen schweigend angegafft wird, wann immer sie einem alten Sack wie dem, der gegenüber am langen Tisch sitzt, einen Kaffee holen soll – oder ein Glas Wasser einschenken, egal – immer dann stürzt alles wieder auf sie ein.
Sie hat einen Fehler gemacht. Einen Riesenfehler.
Imogen reißt die Tür des Konferenzraums auf und flieht aus dem Aquarium.
Foto: Ein Foto eines Fotos, eines alten Schnappschusses von einer Frau, der flammend rotes Haar über die Schultern fällt und auf deren Gesicht ein Lächeln strahlt wie die Sonne. Im Arm hält sie ein Neugeborenes.
Filter: Time
Wünschenswerte Bildunterschriften …
Option 1: #liebe
Option 2: Du fehlst mir.
Option 3: Mutter und Tochter – die stärkste Verbindung.
Mögliche Bildunterschriften …
Option 1: Wenn ich mich doch nur daran erinnern könnte.
Option 2: Wenn ich doch nur behaupten könnte, du wärst mein Fels in der Brandung gewesen.
Option 3: Wenn ich doch nur niemals werde wie du. #sorrymum
Tatsächliche Bildunterschrift …
Es war einmal.
9
Ein Facebook-Freund von mir, ein Typ, den ich kaum kenne, der aber auf meine Schule geht – auf meine ehemalige Schule, muss man wohl sagen – hat gerade seinen Großvater verloren. In einem herzerwärmenden Post schildert er, was ihm sein Opa bedeutet hat, wie viel er von ihm gelernt hat und wie schlimm er ihn vermissen wird. Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich wie eine Verräterin. Ich habe meiner Mum nie auf Social Media gedacht.
Wollte ich das nachholen, könnte ich in etwa schreiben: Ich habe gerade meine Mum verloren. Sie hinterlässt eine unvorstellbar große Lücke in meinem Leben. Seit sie nicht mehr da ist, fühle ich mich so leer.
Soweit würde alles der Wahrheit entsprechen. Wie es danach weitergehen soll, das wäre allerdings ein bisschen knifflig. Ich könnte schreiben: Meine Mutter war mein Fels in der Brandung, mein Vorbild, mein größter Fan. Das wäre gelogen.
Um bei der Wahrheit zu bleiben, müsste es ungefähr so weitergehen: Mit meiner Mum ist der Mittelpunkt meines Daseins verloren gegangen. Klingt doch schön, oder? Ja, das entspricht den Erwartungen. Das danach nicht unbedingt: Seit meinem zwölften Geburtstag habe ich mich um meine Mum gekümmert. Die meisten von euch haben keine Ahnung davon. Ich habe diesen Teil meines Lebens, so gut es ging, vor der Außenwelt versteckt. Und jetzt, wo Mum weg ist, weiß ich buchstäblich nichts mehr mit mir anzufangen. Was soll ich mit meiner Zeit anfangen, wenn ich nicht mehr für sie kochen, einmal am Tag mit ihr spazieren gehen oder ihr mitten in der Nacht ein Glas Wasser bringen muss, weil sie wieder brüllt, dass die Stimmen in ihrem Kopf aufhören sollen? Wenn ich nicht mehr ihre Klamotten waschen muss, damit sie, wenn sie aus dem Haus geht, nicht nach dem Alkohol stinkt, den sie sich im Suff über ihr Top gekippt hat? Wenn ich sie nicht mehr überreden muss, ihre Tabletten zu nehmen oder vom Dach runterzusteigen, statt zu springen?
Die Social Media wurden nicht erfunden, um andere Menschen am wahren Leben teilhaben zu lassen. Kein Mensch verfasst Twitter-Posts über seine Seelenqualen, kein Mensch berichtet auf Facebook von seinen tiefsten Leiden, kein Mensch lädt auf Instagram ein Foto von neulich hoch, als er zwei Stunden lang den Badezimmerboden schrubben musste, den seine Mum vollgeschissen hat, weil sie vor lauter Benebelung nicht mehr zur Toilette gefunden hatte.
Deshalb mache ich es so: Ich knipse ein Foto von dem gerahmten Foto von Mum und mir, das ich aus London mitgenommen habe, und stelle es auf Instagram. Das ist meine schönste Erinnerung an Mum. Streng genommen kann es keine richtige Erinnerung sein – auf dem Foto bin ich nur ein paar Tage alt und wer erinnert sich schon an seine ersten paar Tage. Aber ich gönne es mir, trotzdem so zu tun, denn manchmal macht sich im Leben einfach so viel Realität breit, dass man nur noch mit ein bisschen Selbsttäuschung durchkommt.
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