Meine Mutter war Schülerin eines privaten Mädchen-Gymnasiums gewesen, in dem Mädchen aus Familien der Wiener jüdischen intellektuellen Elite sehr stark vertreten waren. Sie hatte im Jahr 1938 ihren ehemaligen Mitschülerinnen, die sich ja nicht mehr auf die Straße wagen konnten, vielfache Hilfe leisten können, in einem Fall auch eine Verlobung ermöglicht. Viele dieser jungen Frauen haben sich in die USA retten können und waren in den 70er-Jahren, als ich an der Harvard Universität arbeitete, rührend bestrebt, meine Frau und mich einzuladen und zu verwöhnen.
Aus den vielen Gesprächen bei diesen Einladungen sind mir zwei prägende Erfahrungen geblieben. Zum einen: Der Mensch ist nicht gut „von Natur aus“ – er kann sich zum Guten wie zum Schrecklichen entwickeln. Es kommt darauf an, gesellschaftliche Umstände zu schaffen, die das Gute fördern und das Schreckliche bekämpfen. Aus der Kenntnis der Bestialität, die nicht nur in den KZ-Lagern, sondern schon in den schrecklichen Tagen des „Anschlusses“ in Österreich geherrscht hat, bin ich mir bewusst, wie dünn oft die Schicht der Zivilisation und des Anstandes sein kann, mit der – auch heute und weltweit – Gesellschaften leben, und wie wichtig es ist, schon bösen Anfängen zu wehren. Ich erinnere mich noch gut, wie mir bei einem dieser Abendessen mit jüdischen Freunden ein ehemaliger Arzt aus einem Wiener Gemeindebau erzählte, wie ihm im März 1938 eine Horde von Burschen, von denen er viele früher mit großem Einsatz ärztlich betreut hatte, die Fensterscheiben eingeschlagen hatte. Die Mutter eines dieser Burschen kam unmittelbar danach zu ihm, um sich zu entschuldigen, half ihm beim Aufräumen und erklärte, der „Bua“ sei halt in schlechte Gesellschaft geraten und der Vater schon so lang arbeitslos … Manche der jüdischen Freunde, die wir in Amerika getroffen haben, haben sich zu einem späteren Zeitpunkt dann doch entschlossen, Wien wieder zu besuchen, zu dem sie ja emotional doch eine starke Bindung hatten – trotz all der Schrecklichkeiten, die sie dort erlebt hatten. Meine Frau und ich haben diese Freunde dann bei vielen Spaziergängen begleitet und wir konnten das Gefühl mitempfinden, hier unter „normalen Menschen“ zu sein, bei denen man nicht wusste, wie sie oder ihre Verwandten sich in den Jahren der Nazi-Herrschaft verhalten hatten oder verhalten hätten.
Auf einer anderen Ebene habe ich aus den unmittelbaren Berichten über das Nazi-verseuchte Treiben an den österreichischen Universitäten der Zwischenkriegszeit (und der Vorläufer schon früher) gelernt, dass formale Bildung und Kultur kein Schutz gegen Unmenschlichkeit sind. Gerade aus dem intellektuellen Bereich können die Giftschwaden von Nationalismus und Rassismus auf eine gesamte Gesellschaft übergreifen – was in jüngerer Zeit etwa auch beim Zerfall Jugoslawiens tragisch zu beobachten war.
Wie Historiker und Philosophen richtig aufzeigen, haben Totalitarismus und Faschismus für ihr Wirksamwerden jeweils eine Vielzahl von Ursachen. Aber aufgrund vieler Gespräche mit Zeitzeugen und auch aus eigenen Analysen bin ich der Meinung, dass es in Österreich und Deutschland (wie in vielen anderen Staaten) zwar stets den Bazillus des übersteigerten Nationalismus und des Anti-Semitismus gab, dass der schreckliche Ausbruch im 20. Jahrhundert aber nicht erfolgt wäre, hätte es nicht die würgende Not der Weltwirtschaftskrise gegeben. Die Entwicklung der Nazi-Partei in Deutschland und Österreich korrelierte aufs Engste mit der entsetzlichen Entwicklung der Arbeitslosigkeit – und der Unfähigkeit der Wirtschaftspolitik in Deutschland und Österreich, dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Bei den letzten freien Wahlen in Österreich im Jahre 1930, also bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, kam die NSDAP nur auf 3 Prozent der Stimmen. 8Mit vollem Wirken der Wirtschaftskrise und gewaltiger Arbeitslosigkeit entstand aber dann bei vielen – nicht bei allen! – die Stimmung, die sich 1938 entlud. Auch in Deutschland war der Aufschwung der Nationalisten eng mit der wirtschaftlichen Notlage und der Unfähigkeit der Regierung, dagegen anzukämpfen, verbunden. 9
Politisch noch dramatischer war der Rückgang der Arbeitslosigkeit nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die expansive Wirtschaftspolitik der Nazis war zweifellos wesentlich durch ihre Kriegsvorbereitungen bestimmt – aus der Sicht der Arbeiterschaft aber bedeutete sie ein Ende von Massenarbeitslosigkeit. Diese expansive Politik war wieder in wesentlichen Teilen dadurch ermöglicht, dass die Deutsche Reichsbank – jedenfalls durch längere Zeit – bereit war, für die autoritäre Diktatur das zu tun, was sie der Republik verweigert hatte – nämlich de facto direkte Notenbank-Finanzierung für den Staat. Für das von Nazi-Deutschland mit wirtschaftlichen Sanktionen belegte Österreich, das weiterhin einer konservativen Finanzpolitik folgte, war in den Jahren vor 1938 der Unterschied zwischen der in Deutschland inzwischen erreichten Vollbeschäftigung und der Massenarbeitslosigkeit in Österreich politisch fatal. Zweifellos gab es eine Vielzahl von Gründen für den Zusammenbruch der Ersten Republik, aber es ist wohl nachvollziehbar, dass für viele Menschen das Beispiel Deutschlands als Ausweg aus existenzieller Hoffnungslosigkeit erschien – speziell auch für die politisch sensible Gruppe junger Männer. Dass nach dem „Anschluss“ die Arbeitslosenrate in kurzer Zeit rapid zurückging – von 22 Prozent im Jahr 1937 auf 12,9 Prozent und dann 3,2 Prozent in den Jahren 1938 und 1939 10– trug wohl wesentlich zur raschen Akzeptanz der Nazi-Herrschaft auch im Bereich der Arbeiter und Angestellten bei. Mit zunehmendem Bewusstsein der Kriegsgefahr nahm diese Akzeptanz dann wieder ab – wogegen die NS-Regierung mit ungeheurem Propaganda-Aufwand und brutalem Terror ankämpfte.
Die Bedeutung der wirtschaftlichen Faktoren zeigte sich auch darin, dass eine der ersten Maßnahmen der einrückenden deutschen Truppen darin bestand, die durch eine verfehlte Politik des „harten Schilling“ angehäuften, erheblichen Goldreserven der Oesterreichischen Nationalbank sofort zu beschlagnahmen und den abnehmenden Währungsreserven der Reichsbank zuzuführen. Die dramatische Unfähigkeit der Regierungen in Deutschland und Österreich gegenüber den Folgen der Weltwirtschaftskriese stand in deutlichem Gegensatz etwa zu den Ansätzen eines New Deal in den USA oder der Politik Schwedens. Diese Unfähigkeit war zum Teil erzwungen durch eine kurzsichtige Gläubiger-Diktatur, sie war aber auch verursacht durch dramatisch falsche Ratschläge führender Wirtschaftswissenschafter jener Zeit, wie etwa eines F. A. von Hayek oder der orthodoxen Notenbanker in Österreich wie in anderen Staaten.
Eines der – leider seltenen – Beispiele dafür, dass es auch politisch und gesellschaftlich möglich ist, aus der Geschichte zu lernen, ist die internationale Reaktion auf die Finanzkrise 2007/2008 durch Finanzpolitik und Notenbanken. Die Finanzkrise hatte das Potenzial, sich zu einer neuen Weltwirtschaftskrise zu entwickeln. Ausgangspunkte waren wirtschaftspolitische Fehler, speziell eine überzogene Deregulierung des Bankensektors. Aber in der dann folgenden Krise war der internationale Konsens der Notenbanker, die Fehler der 1930er-Jahre nicht zu wiederholen. In diesem Sinn haben die Notenbanken wohl mitgeholfen, „die Welt zu retten“. Sie waren bereit, die drohende Illiquidität der Weltwirtschaft rasch durch unbegrenzte Kreditvergabe an das Bankensystem zu bekämpfen, und sie verhinderten Zusammenbrüche von Banken – und damit die massiven negativen Kettenreaktionen. Gleiches gilt für den entschlossenen Einsatz der Geld- und Finanzpolitik angesichts des dramatischen Einbruches der Weltwirtschaft im Zuge der Corona-Krise des Jahres 2020.
Ich werde auf diese Entwicklungen in den Kapiteln 13 und 20 noch näher eingehen. Hier möchte ich mich erinnern an ein Gespräch, das ich zu einem späteren Zeitpunkt mit Ben Bernanke, dem damaligen Präsidenten der US-Notenbank, hatte. Ben Bernanke hatte sich schon vor der großen Finanzkrise in einer langen wissenschaftlichen Karriere als Professor der Princeton Universität speziell mit der Krise der 1930er-Jahre beschäftigt. Ich war von Ben Bernanke schon von seiner akademischen Arbeit her sehr beeindruckt, ehe ich ihn auch persönlich kennenlernen konnte. Seine Familie kam aus dem Raum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und in seiner Autobiografie zeigt eines der wenigen Fotos seine Großmutter als junge Ärztin im Wiener Franz-Josef-Spital im Jahr 1918.
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