Und nun war Huberts Werk endlich online, nun hingen die Neuesten Grätzelnachrichten auf Gedeih und Verderb an einer teuren App, die nur fünf oder sechs Mal am Tag heruntergeladen wurde. Hatte er, Ingo Prähausner, sich wirklich für die Zukunft entschieden, oder war er dabei, seine Zeitung zu ruinieren?
Der Journalist bog in den angenehm kühlen Uferpark ein. Er knisterte durch herabgefallenes Platanenlaub in Richtung Fluss. Ein Kind von drei oder vier Jahren wühlte in den modrig riechenden Blättern; es füllte den Eimer, den seine Mutter hinter ihm hertrug, mit Kastanien, mit Augen, die nassbraun zu Prähausner heraufglotzten, als er nahe an den beiden vorüberging und einen Blick in den Kübel tat.
„Gell, Mama, die Tiere freuen sich. Wenn es kalt ist.“ Der kleine Bub hatte rote Wangen, ob vor Eifer oder wegen seines viel zu dicken Mützchens, ließ sich nicht sagen. Unentwegt bückte er sich, und selten war seine Mühe vergebens.
„Ja, Leopold, wenn es kalt wird, gehen wir in den Wald und bringen sie den Tieren“, sagte die junge Mutter gelangweilt. Sie mochte Mitte dreißig sein und hatte große grüne Augen, mit denen sie Prähausner, der halb schon vorbei war, voll trägen Interesses musterte, alleinerziehend und einsam, überfordert mit ihrer Arbeit und ihrem Buben, der eben heftig auf die Stachelschale einer Kastanie trat, um die Frucht herauszulösen; oder frustriert von der Ereignislosigkeit einer Ehe in einer der nahen Villen. „Es macht mich wahnsinnig, dass du dir dauernd vorstellst, wie etwas sein könnte. Du lebst doch bloß im Konjunktiv“, hörte Prähausner Hertha so deutlich sagen, als stünde sie direkt neben ihm.
Er nickte der jungen Mutter zu. Sie lupfte ihre Mundwinkel zu einem Lächeln, dann fing der Kastaniensammler zu plärren an und Prähausner machte, dass er davonkam. Was stand schon dagegen, sich die Dinge einfach nur auszumalen? Sich zum Beispiel vorzustellen, den Buben in der Minigolfanlage, die in einem verwunschenen Winkel des Parks vor sich hindämmert, mit Ball und Schläger zu versorgen und mit seiner Mutter im Gebüsch zu verschwinden. Aufgehäuftes Laub umknistert ihre Schenkel, als sie sich auf die Erde setzt; die rote Flamme der Erregung im Gesicht, wühlt sie sich in die Blätter, begierig, ihren Buben einmal für zehn Minuten zu vergessen, begierig, sich von mir, einem vollkommen Fremden, mit glührotem Laub überhäufen zu lassen, aufgezehrt zu werden von der Hitze des Augenblicks.
Was stand dagegen, sich auch andere Sachen lediglich vorzustellen, Mord und Totschlag zum Beispiel, Kriege und Genozide oder ganze Völkerschaften, die auf der Flucht waren? Nur wer nicht genug Phantasie, genug Anschauungskraft und Einfühlungsvermögen besaß, war in der Lage, einen Krieg vom Zaun zu brechen, einen Krieg, der hunderttausende von Menschen nach Norden getrieben hatte. Zweitausend von ihnen waren nun am Bahnhof, hier in Prähausners Stadt, und es wurden täglich mehr.
Zum vierten Mal hintereinander Mozzarella und Weißbrot. Eigentlich war es an der Zeit, auch einmal etwas anderes einzukaufen, ein Roggensemmerl und Schinken zum Beispiel, und dazu vielleicht Tomaten für einen Salat. Aber Prähausner stand schon zu weit vorne in der Schlange, seine Einkäufe fiepten gerade über den Scanner der Kassa.
Er zahlte und verließ mit den Lebensmitteln in der Hand den Laden. Eben sank die Sonne hinter die Wohnblocks der nahen Siedlung. Eine scharfe Schattenklinge zerschnitt die Zufahrtsstraße, die am Supermarkt vorbeiführte, in zwei beleuchtete Hälften. Die Spitze des dunklen Messers stach in etwas Grellrotes, das vor jenem Altglascontainer lag, in dem er stets seine Flaschen und Marmeladengläser entsorgte – in etwas Grellrotes, wohl in ein Tuch, das neben einer grauen Decke zu Boden gefallen war. Wer nur war in Zeiten wie diesen so nachlässig, eine Decke wegzuwerfen? Seit zwei Wochen durchkramte jeder, der etwas auf sich hielt, seinen Keller, seinen Speicher nach alten Schlafsäcken, Camping- oder Yogamatten, nach Federbetten.
So eine Decke wie sie da drüben lag, sagte sich Prähausner, war gerade gefragt, also würde es gut sein, sie mit in die Wohnung zu nehmen, zu waschen und zu einer Sammelstelle oder gleich zum Bahnhof zu bringen. Kalt blähte sich der Mozzarellabeutel in seiner Hand. Ein leichter Schauder schlich sich über den Rücken des Redakteurs. Nein, dort drüben waren nicht nur eine Decke und ein Tuch, dort war auch noch etwas anderes, etwas unangenehm anderes , etwas, das nicht zwischen diese Wohnblocks passt, zwischen die sauber sanierten Fassaden, die respektvoll Abstand voneinander halten; zwischen die weißen Stämme der Buchen und zwischen die Hecken, die akkurat um die Grundstücksgrenzen ecken. Dort ist etwas, an dem es sich schnell und leicht vorbeigehen lässt; ich kann binnen Minuten Brot und Mozzarella hinter meiner Wohnungstüre in Sicherheit bringen und mir mit einem kühlen Bier in der Hand einen ruhigen Abend gönnen, kann die Füße, die von der Schreibtischfron schon seit Stunden drücken, erleichtert hochlegen und versuchen, nicht daran zu denken, dass dieses Etwas vielleicht irgendwann in der Nacht ans Flussufer kriecht oder in den Park, ich kann mir sagen, dass es nicht von betrunkenen Jugendlichen belästigt, dass es nicht in ein Auto mit getönten Scheiben gezerrt wird, sondern seinen Weg in die Bahnhofsgarage oder in eine andere Notschlafstelle finden wird.
Ich rucke ein paar Schritte in Richtung Decke und Tuch, dann hält es mich wieder an. Mitten auf der Zufahrtsstraße vereinsame ich in Erinnerungen. Ein Gedanke nach dem anderen zögert durch mein Hirn, ohne dass er zu einer Entscheidung wird.
„Das … ich glaube, das war noch nicht da, als ich zum Einkaufen gegangen bin“, tönte es plötzlich vom Supermarkteingang her. Dort stand Frau Hirscher, die grauduttige Nachbarin aus dem dritten Stock, über ihren Einkaufskorb gebeugt, und Prähausner machte plötzlich die nötigen Schritte in Richtung Decke. Unter ihrem Saum drängte dunkel eine Haarsträhne hervor.
Der Journalist ließ seinen Rucksack vom Rücken rutschen, stellte ihn auf den Asphalt und legte Brot und Mozzarella darauf. Das Haar tentakelte wild auf die Straße, als er die Decke ein wenig lüftete, und dann durchsäuert ein Geruch nach zu lange getragener Kleidung die Luft, ein Straßengeruch, der gleichzeitig etwas eigenartig Intimes hat, etwas, was mich dazu verführt, noch einmal indiskret zu schnuppern. Es riecht nach Nächten im Freien, Nächten in irgendwelchen zugigen, feuchten Ecken, nach Angst und nach Anstrengung. Es riecht nach Erlebnissen, die als Schweiß über Brust und Rücken geronnen sind, die sich in den Achselhöhlen, den Kniekehlen, dem Schritt gesammelt haben und dort sauer geworden sind. Zwei, drei Tage ohne Kleiderwechsel, ohne Waschen, wie damals in der Fabrikhalle, im Wald, und man gehört nicht mehr in die Welt der Deos, der Seifen, Duschgels und Parfums. Nicht mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Verwaltung, nicht mit der Zerstörung der Elektrizitätsversorgung wird einst der Untergang der menschlichen Zivilisation beginnen, sondern mit den fehlenden Düften, den fehlenden Höflichkeiten für die Nasen der anderen. Wir werden uns gegenseitig ansäuern, anstinken werden wir uns, und das so lange, bis wir einander nicht mehr ertragen.
Prähausner zog die Decke weg. Die Frau hatte sich auf dem Bauch ausgestreckt. Ihre Beine waren nackt, weil sie nur eine Art von langer Bluse trug, weiß und mit fremdländisch aussehenden rosa Rüschen geschmückt. Der hintere linke Oberschenkel war blauviolett verschwollen. Direkt daneben verrenkte sich eine Jeans.
Der Redakteur blickte in bittender Hilflosigkeit zu Frau Hirscher hinüber. Sie stellte ihren Korb, aus dem zwei Lauchstangen ragten, ab, machte aber keine Anstalten, dem Journalisten zu Hilfe zu kommen.
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