Berti machte eine kurze Pause um Luft zu holen, denn durch diesen Redeschwall wurde er atemlos, und seine Gesichtsfarbe hatte sich in tiefes Rot verwandelt.
Ronni nutzte diese kurze Pause.
„Dann bedeutet das, dass du die Polizei nicht angerufen hast?“
„Genau, habe ich nicht. Ich bin doch jetzt bei dir und du bist doch die Polizei, oder …?“
„Ja, natürlich. Daher habe ich auch meine Koffer gepackt und wollte heute mit der Fähre um 13:30 Uhr nach Hause fahren. Zu Hause werde ich mich um den Fall kümmern.“
„Das wolltest du für mich tun?“
Als Berti erneut auf Ronni zukam, um ihn wahrscheinlich erneut dankbar zu umarmen, streckte dieser die Arme aus und zeigt ihm damit an, auf Distanz zu bleiben.
„Damit ich die Fähre noch erreiche, werde ich jetzt meine Koffer in der Wohnung holen und du könntest mich zur Fähre fahren. Was hältst du davon?“
Ronni ging an Berti vorbei zur Haustür. Bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte, blieb er wie angewurzelt stehen. Alle seine Bewegungen schienen eingefroren zu sein.
„Moment mal.“
Er drehte sich abrupt zu Berti um und starrte ihn mit bangem Blick an.
„Was ist mit Moni? Was hast du mit der Leiche gemacht?“
Berti bemerkte den ängstlichen Blick seines von ihm auserwählten Freundes und sagte gar nichts.
„Was hast du mit Moni gemacht?“, fragte Ronni noch eindringlicher und ging auf Berti zu, packte ihn mit beiden Händen an der Jacke und schüttelt ihn.
Bevor Berti antwortete, befreite er sich aus Ronnis Griff und ging schnell hinter das Heck seines Autos, als flüchtete er vor ihm.
„Die habe ich mitgebracht!“
Ronni konnte nicht glauben, was er soeben hörte.
„Du hast was? Du hast Monis Leichnam …“ Er hielt mitten im Satz inne und versuchte sich zu sammeln, bevor er nochmal mit dem Satz begann, den er vorher nicht beenden konnte.
„Du hast Monis Leichnam im Auto mitgebracht?“
Ronni lief auf Berti zu, um ihn erneut zu packen. Dieser achtete aber darauf, dass sein Auto immer zwischen ihm und dem aufgebrachten Freund blieb.
„Ja. Bleib endlich stehen und lass mich in Ruhe, dann zeig ich sie dir.“
„Das glaube ich jetzt nicht“, stöhnte Ronni und schüttelte immer wieder seinen Kopf, als wäre er ein kleines Kind, dem man sagt, dass es keinen Nikolaus gibt.
Er beugte sich zum Seitenfenster des Autos herunter und schaute in den Innenraum. Da lag keine Leiche.
„Hast du Moni im Kofferraum?“
„Ja, natürlich. Ich konnte sie doch nicht auf den Beifahrersitz setzen. Wenn du mich in Ruhe lässt, zeig ich sie dir.“
„Mach schon die Heckklappe auf.“
Ronnis anfängliche Bestürzung war jetzt in Wut umgeschlagen.
Berti ging zur Rückseite des Autos, wobei er den Blick nicht von Ronni abwendete. Als er die Heckklappe anhob, trat sein ehemaliger Freund neben ihn.
Vor ihnen lag ein in blauen Plastiksäcken verschnürtes großes Paket.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, stöhnte Ronni.
„Ich glaube es nicht.“
Berti war zwei Schritte zurückgetreten und sagte gar nichts.
Ronni begann an den Plastiksäcken zu zerren. Er wollte feststellen, ob sich darin tatsächlich Moni befand. Doch das war schwierig. Er ertastete zwar etwas, das ein Kopf sein konnte, aber der Sack ließ sich nicht so einfach entfernen, da er mit einer Kordel fest verpackt war. Einfach den Sack aufreißen, dazu konnte er sich nicht überwinden. Das wäre ihm wie Leichenfledderei vorgekommen, wenn denn tatsächlich Moni in dem Sack steckte. Daher begann er umständlich die Knoten der Kordel zu lösen und danach vorsichtig den blauen Sack wegzuziehen.
Als Kommissar des Morddezernates hatte er bereits eine Menge Menschen gesehen, die auf die eine oder andere unschöne Art ums Leben gekommen waren. Die einen mehr, die anderen weniger mit Blut befleckt. Manche waren, vor allem, wenn es sich um Wasserleichen handelte, völlig entstellt. Immer musste er sich überwinden, den Körper anzusehen.
So war es auch in diesem Fall. Unwillkürlich wich er zwei Schritte zurück. Den blauen Sack in den Händen, starrte er die vor ihm liegende tote Frau aus einiger Entfernung an. Dann ein fast hilfesuchender Blick zu Berti. Doch der stand inzwischen mindestens zehn Meter entfernt, hatte sich abgewandt und schaute zu den Dünen hoch. Von ihm konnte er keine Unterstützung erwarten.
Ronni schaute in die weit aufgerissenen Augen der Toten, deren Bindehaut fast schwarz war. Er hatte Mühe, seinen Blick von den Augen abzuwenden. Das Gesicht der Toten war bleich und die Haut schien bereits total ausgetrocknet zu sein. An einigen Stellen der Wangen hatten sich rötliche Totenflecken gebildet. Wahrscheinlich durch den Druck des fest verschnürten Sackes.
Das sollte Moni sein? Diese hübsche, blonde Frau mit dem netten Lächeln. Der Tod hatte sie so entstellt, dass er nur wenig Ähnlichkeit mit der Frau feststellen konnte, die er gekannt hatte. In der jetzigen Situation erleichterte ihn dieser optische Abstand ein wenig.
Langsam näherte er sich wieder dem Kofferraum und somit der Toten. Er befühlte so behutsam wie möglich die Haut. Sie fühlte sich kalt an. Er wusste, das lag an der Erwartung, die der Mensch bei der Berührung nackter Haut hat. Es bedarf daher keiner großen Abkühlung, damit bereits ein unangenehmer kalter Eindruck entsteht.
Der Hals der Toten war mit ausgeprägten Würgemalen bedeckt. Das bestätigte Bertis Aussage, dass sie erwürgt wurde.
Dann versuchte er, den Körper ein wenig zu drehen, um den Arm der Toten zu bewegen und festzustellen, ob die Totenstarre bereits eingesetzt hatte. Doch sofort war ihm klar, dass die Totenstarre vollständig ausgeprägt war und er sah von seinem Vorhaben ab.
Nach seinen Erfahrungen wusste er, dass die Totenstarre nach etwa acht Stunden voll ausgeprägt war. Moni musste demnach mindestens acht, wenn nicht noch einige Stunden länger tot sein.
Ronni trat zurück und atmete mehrmals tief ein, bevor er sich zu Berti umdrehte und rief:
„Ich werde jetzt die hiesige Polizei anrufen. Die muss den Fall aufnehmen und die Spurensicherung hierherschicken.“
Sein früherer Freund gab keine Antwort. Er schaute weiterhin zu den Dünen hoch, als suche er dort im Sand nach einer Antwort oder Lösung für diese Situation.
Ronni ließ ihn in Ruhe, nahm sein Smartphone, entfernte sich ein Stück vom Auto und drehte sich mit dem Rücken zu Berti. Er wollte nicht, dass Berti sein Gespräch mit den Kollegen mithörte.
Er kannte natürlich die Rufnummer des Polizeireviers auf Borkum nicht, daher wählte er die Notrufnummer 110. Auch wenn „Not“ in diesem Fall vielleicht das falsche Wort war, denn ein Zustand des Mangels oder eine lebensbedrohliche Situation lag bei Moni bestimmt nicht mehr vor.
„Moin, was kann ich für Sie tun?“, fragte eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
Ronni schilderte die Situation, dass er nach Hause fahren wollte und sein Freund gerade mit dem Wagen angekommen sei und sich im Gepäckraum seines Wagens die Leiche einer Frau befand, die offensichtlich ermordet worden war.
Die Frau rang offenbar nach Luft. Ein Mord! So etwas hatte es auf Borkum scheinbar noch nicht gegeben.
Nachdem Ronni seinen Namen und die Adresse genannt hatte, gab die Beamtin ihm mit hörbar aufgeregter Stimme noch einen Hinweis, dessen erster Teil aber bereits zu spät kam:
„Rühren Sie nichts an und bleiben sie am Tatort. Meine Kollegen sind in wenigen Minuten bei Ihnen.“
„In Ordnung“, sagte Ronni und beendete das Gespräch.
Hätte er der Kollegin erklären sollen, dass er die Tote und den PKW bereits angefasst hatte und dass es sich hier nicht um den Tatort handelte?
Nein, das hätte nur zu unnötigen Fragen geführt und seine Glaubwürdigkeit untergraben. Er wollte das Eintreffen der Kollegen abwarten und dann die ganze Geschichte erzählen und erklären. Wobei er sich darüber klar war, dass ihm eine Erklärung schwerfallen würde. Aber wenn er dann klarmachen würde, dass er selbst ein Kriminalkommissar aus Bonn ist, würde sicherlich manche Erläuterung einfacher werden.
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