Bis zur Abfahrt der Fähre um 13:30 Uhr hatte er genug Zeit. Nach dem Duschen zog er sich warme Kleidung an und spazierte wie jeden Morgen zum Bäcker.
Die zu dieser Jahreszeit tief stehende Sonne schien ihm ins Gesicht und eine frische Brise wehte ihm um die Nase. Es schien, als wolle sich das Wetter bei ihm in unvergessliche Erinnerung bringen. Im Ort herrschte sonntägliche Ruhe. Kein Auto, kein Motorrad, nur hin und wieder begegnete ihm ein Fahrradfahrer. Es war schon richtig, dass er sich diese Insel als Urlaubsort ausgesucht hatte, auf der er einen wunderbaren Abstand zum Stress seiner täglichen Arbeit fand.
Noch einmal schaute er sich bewusst die Landschaft, die Häuser und den Leuchtturm, der sich majestätisch über das reizvolle Städtchen erhob, an. In seinem Leben hatte er sooft Abschied nehmen müssen. Von lieben oder nicht so lieben Menschen, von Gewohnheiten, von guten, wie von schlechten, und von Dingen, die einem ans Herz gewachsen waren.
Heute war sein letzter Tag auf dieser Insel und er wusste, dass der heutige Abschied von Borkum kein Abschied für immer war.
Er war über sich selbst erstaunt, dass er die Gelassenheit hatte, diese letzten Augenblicke zu genießen. Den gesamten Weg zum Bäcker hatte er nicht eine Sekunde an Berti und Moni gedacht.
Beim Bäcker stand die Menschenschlange von der Theke bis in die Fußgängerzone. Als er endlich seine beiden frischen Brötchen erhalten hatte und sich auf den Rückweg machte, schlug die Realität mit geballter Macht zu. Das gestrige Telefonat war wieder Bestandteil seines Denkens.
Wieder in der Wohnung, musste er sich dazu zwingen, zumindest in Ruhe zu frühstücken. Aber bereits beim anschließenden Aufräumen und Säubern der Wohnung und Packen der Koffer hatte eine völlig unnötige innere Anspannung von ihm Besitz ergriffen.
Da er noch genügend Zeit hatte, ließ er die gepackten Koffer in der Wohnung stehen und ging nochmals in den Ort, um bei der Wohnungsverwaltung Bescheid zu sagen, dass er heute noch abreisen und einen der Wohnungsschlüssel zurückgeben werde. Den zweiten Schlüssel würde er in den Briefkasten werfen. So war es mit dem Vermieter vereinbart. Danach wollte er mit den Koffern ins Zentrum des kleinen Städtchens zum Abfahrtspunkt der Inselbahn gehen, die ihn zum Fährhafen bringen würde.
Hätte er in die Zukunft blicken können, hätte er mit Sicherheit die Koffer bereits auf den Weg zur Schlüsselrückgabe mitgenommen. Diese Zeiteinsparung wäre vielleicht der entscheidende Schlüssel für eine unproblematische Heimreise gewesen.
Aber da er diese Fähigkeit nicht besaß, musste er aus diesem Spruch, der manche Sonnenuhr ziert, lernen:
In die Zukunft blicken – in der Gegenwart leben – aus der Vergangenheit lernen.
Ronni hatte den Schlüssel bei der Wohnungsverwaltung abgegeben und schlenderte gemütlich zu seiner Wohnung zurück. Er hatte alles erledigt, was vor der Abreise zu erledigen war. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
Als er in die Straße einbog, in der sich seine Wohnung befand, stutzte er. Auf dem privaten Parkplatz vor dem Haus parkte ein ihm unbekannter PKW.
Das konnte unmöglich bereits ein Mitarbeiter der Wohnungsverwaltung sein, der die Wohnung reinigen wollte. Der PKW hätte an ihm vorbeigemusst und das hätte er bemerkt. Es handelte sich um ein neueres Modell eines großen Kombis und der Wagen trug keine Aufschrift einer Firma. Er vermutete daher, dass es sich um eine private Person handelte, die dort widerrechtlich geparkt hatte und zum Strand gegangen war. In der vergangenen Woche war das einige Male vorgekommen und es stellte auch grundsätzlich kein Problem dar. Er war der einzige Mieter im Haus und der Parkplatz war immer frei, da sein Wagen in Eemshaven stand.
Trotzdem beschleunigte er unwillkürlich seine Schritte. Als er nahe genug herangekommen war, konnte er das Kennzeichen lesen.
Es begann mit SU …
Die Buchstaben und Zahlen dahinter sagten ihm nichts. „SU“ bedeutete, der Wagen war eindeutig im Rhein-Sieg-Kreis zugelassen.
Sollte ihn jemand unverhofft besuchen wollen? Eine Überraschung womöglich?
Na, derjenige hätte kein Glück. Er hätte die Fahrt vergeblich unternommen. Er, Ronni, würde sich nicht aufhalten lassen. Er musste zurück nach Hause.
Als er noch näher herangekommen war, erkannte er hinter dem Steuer einen Mann. Dieser schien Ronni ebenfalls bemerkt zu haben und stieg aus.
Als Ronni nur noch fünf, sechs Meter von ihm entfernt war, blieb er stehen und betrachtete den Mann, der sich keinen Schritt von der noch geöffneten Autotür entfernte. Ronni musterte sein Gegenüber von Kopf bis Fuß. Nein, diesen Mann kannte er nicht.
Sein Gegenüber glotzte ihn mit starren Augen an, sagte aber kein Wort.
„Warten Sie auf mich?“, fragte Ronni, ohne sich dabei dem Mann weiter zu nähern.
„Ja natürlich, mein Freund. Erkennst du mich denn nicht mehr?“
Ronni kniff die Augen zusammen und musterte den Mann nochmals von oben bis unten. Ungefähr 1,90 Meter groß und breitschulterig. Unter seiner blau-weißen Windjacke wölbte sich unverkennbar der Bauch, so schien es jedenfalls. Der Mann hatte fast eine Glatze. Nur am äußeren Rand spross ein Kranz spärlicher Haare, die der Wind in alle Richtungen wehte. Sein Gesicht hatte eine unnatürlich rosa, ja fast rote Hautfarbe.
Nein, diesen Mann hatte er noch nie gesehen.
Diesen Mann kannte er nicht. Da war er sich vollkommen sicher.
„Nein, ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie denn?“
„Aber Ronni, ich bin`s doch. Berti aus Bergheim.“
Mit diesen Worten löste sich der starre Blick, mit dem er sein Gegenüber anschaute und er eilte mit großen Schritten auf Ronni zu und schloss ihn in seine Arme.
„Bin ich froh, dass ich dich antreffe. Du hast dich überhaupt nicht verändert, mein Freund. Außer, dass du im Gesicht etwas dicker geworden bist.“
Ronni hatte keine Chance, der Umarmung von Berti zu entgehen, es sei denn, er hätte Gewalt angewendet. Aber das schien ihm im Augenblick etwas überzogen zu sein. So ließ er diesen Akt der Herzlichkeit über sich ergehen und sagte nichts.
„Erkennst du mich denn nicht mehr? Okay, ich habe ein paar Haare verloren. Aber sonst bin ich noch der Alte, so wie früher.“
Ronni konnte nicht glauben, was er da hörte. Von dem Berti, an den er sich erinnerte, waren nur die braunen Augen geblieben und die schienen auf dem besten Weg zu sein, von der fleischigen Umgebung verschlungen zu werden.
„Ja, ja, tatsächlich. Ich hätte dich fast nicht erkannt. Ich habe aber auch nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen“, antwortete Ronni höflicher, als er eigentlich wollte.
„Da siehst du mal. Einmal Freund, immer Freund. Ich vergesse nie jemanden.“
Und wieder schlossen sich die Arme um den Oberkörper von Bertis Freund.
Als Ronni endlich wieder atmen konnte, stellte er ganz langsam und deutlich die für sich entscheidende Frage:
„Was … willst … du … hier?“
„Du wolltest mir doch helfen …“
„Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte die Polizei anrufen“, unterbrach ihn Ronni scharf.
„Ja, ja. Ich weiß. Du hast dich am Telefon ein bisschen geziert. Da du nicht zu mir kommen konntest, komme ich zu dir. Und glaub mir, es war eine Scheißfahrt. Ich musste um 8:30 Uhr die Fähre in Emden erreichen und bin fast die ganze Nacht durchgefahren. Na ja, zumindest ab drei Uhr. Dann saß ich über zwei Stunden auf der Fähre herum. Und bevor ich losfuhr, musste ich doch noch alles in den Kofferraum verstauen – und das hat auch noch einige Zeit gedauert. Du verstehst?“
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